Um diesem Hamsterrad ausgetauschter persönlicher Überzeugungen,
Einschätzungen, Postulate zu entkommen, würde sich das Bemühen anbieten,
die hier diskutierten Themen auch aus jeweils gegensätzlichen
Perspektiven zu reflektieren und dabei auf kategorisch (zumeist spontan)
angelegte Gegenrede zu verzichten.
Wenn Du, Waldemar, (wie zu erwarten) die von mir anerkannte Kompetenz
der Lisa Feldman-Barrett (und sie ist wirklich eine Größe in ihrem Fach!
zudem in ihrer Menschlichkeit überaus sympathisch) insoweit
relativierst, als Du, wieder einmal pauschalierend, Fachleute einer
destruktiv angelegten Fundamentalkritik unterziehst.
Dein Bezug auf die historische Bedeutung von Laien trifft grundsätzlich
zu, wird aber nicht Laien, sondern Dilettanten zugeschrieben, worin ein
wesentlicher Unterschied besteht. Ich spare mir weitere Ausführung, man
kann das heute alles leicht recherchieren.
Der Unterschied zwischen „Fachkraft“ und „Laie“ liegt in der (im
üblichen Sprachgebrauch ausgedrückten) Differenzierung der jeweils
zugeordneten, nicht identischen Fach- bzw. Handlungskompetenz. Darauf
hob offensichtlich Joseph mit seiner Frage ab, ob Lisa nicht doch
kompetenter sei, als wir über Gehirnfunktionen hier diskutierende Laien,
was für mich fraglos der Fall ist.
Josephs weitere Frage, ob die Autorin sich in besagtem Artikel als
„radikale Konstruktivistin“ entlarvt hätte, kann ich meinerseits strikt
verneinen. Wie schon vorhin von mir geschrieben, bringen ihre Aussagen
zu Geist, Gehirn und Lebensumfeld klar zum Ausdruck, dass Perzeption und
deren prozessuale Verarbeitung im Gehirn als ein gesamtheitlich
konstruierender, kognitiver Prozess unter Einbeziehung aktueller
Perzeption wie auch bereits angelegter Erfahrungen zu werten ist - nicht
mehr, nicht weniger!
Wie anders sollte man es ausdrücken, als dass die kognitive Verarbeitung
der (bewusst wie auch unbewusst) sinnlich erfassten Lebenswelt
notwendigerweise nur eine (Re-)Konstruktion von Wahrnehmung sein kann.
Dabei geht es, wie von Lisa beschrieben, auch um den Einfluss
subjektiver ganzkörperlicher Befindlichkeiten wie etwa Gefühle (auch
diese unterliegen nicht selten einer Täuschung).
Bewusstsein ist – wie kürzlich schon ausgeführt - kein
(selbstreferenziell hermetisch abgeschlossener) Zustand, sondern ein
stetig prozessualer Abgleich der sensorisch einlaufenden Information aus
dem physischen und affektiven Umwelt (Intraception, soziale Interaktion)
mit dem bereits im Gehirn abgelegten Erfahrungspotential (relativer
Wissensstand, Annahmen, Vorstellungen, etc.); es ist damit ein Prozess
permanent erneuter Bewusstwerdung.
Der dabei erfolgende Abgleich mit früheren Erfahrungen und Sinnesdaten
ist zugleich die Grundlage für die überlebenswichtige Antizipation
dessen, „was als Nächstes innerhalb und außerhalb des Körpers geschehen
könnte“, setzt Ressourcen, Reaktionen und diesbezüglich entsprechende
Handlungen in Gang (so von Feldman Barrett beschrieben). Es werden damit
im Gehirn abgelegte Modelle (in Abhängigkeit von individuell
ausgeprägter Intelligenz) aktualisiert.
Ich hatte diesbezüglich vom Update dieser subjektiv graduierten
Einstellungen bzw. Überzeugungen (ggf. „false beliefs“) gesprochen; ein
a-priori vs a-posteriori - Abgleich, der zur Abänderung der
propositionalen Konditionierung führen kann und damit diachrone Kohärenz
durch Verarbeitung neuer (aus interaktiver Kommunikation gewonnener)
Informationen schafft.
Dieser bewusst, wie ebenso auch unbewusst erfolgende "Korrekturprozess"
minimiert unzulängliche Inferenzen, die durch Fehlinterpretation der im
Gehirn erzeugten Konstrukte erfolgen.
Ebenso zu korrigieren wären bereits im Erfahrungsfundus modellhaft
angelegte Werte-Muster, die sich gemäß spezifisch (phylo-)genetischer
Disposition, vor allem jedoch infolge sozialisierter Prägung entwickelt
haben.
Damit wir deutlich, dass sowohl bezogen auf individuell im Gehirn
angelegte Wertemodelle, wie ebenso nach aktuell erfolgter Perzeption
prozessual im Gehirn erzeugte „Konstrukte“ zu fehlerbehafteten
Schlussfolgerungen führen und daher niemals objektive
Allgemeingültigkeit haben können.
Daraus kann jedoch in keiner Weise abgeleitet werden, dass die
Interpretation eines Wahrgenommenen grundsätzlich falsch sein muss oder
eben nach Waldemars Auffassung schlichtweg „betrug, märchen, unecht,
schimäre“ ist.
Das Gehirn ist somit nicht nur „Meister der Täuschung“ (wie das Lisa so
benennt), es offenbart ebenso wenig seine innere Funktionsweise bezogen
auf die ganzheitliche körperliche wie die jeweils augenblicklich
affektive Konstitution.
Somit wird es noch geraume Zeit in Anspruch nehmen, bis
neurowissenschaftliche Forschung weitere grundlegende Erkenntnisse über
das komplexe Spiel des Gehirns als „Meister der Täuschung“ gewonnen hat.
Bis dahin bleibt uns, diesen großartigen "Konstrukteur" zu bewundern,
wie er sich evolutionär auf grandiose Weise entwickelt hat, anstatt ihn
der hinterlistigen Täuschung zu bezichtigen.
Beste Grüße! - Karl
PS: wenn Du, Joseph, noch immer weitere Antworten auf unten gestellte
Fragen suchst (sie also nicht implizit aus dem von mir Geschriebenen
entnehmen kannst - da ich mich zumeist sehr "verschraubt" ausdrücke),
dann lasse es mich wissen. Vielleicht fällt mir noch etwas dazu ein,
überdies wäre es halt auch wirklich schön, von anderen Meinungen als
jene der hier üblichen "Kämpfer" zu erfahren.
Am 11.11.2021 um 03:48 schrieb Joseph Hipp via Philweb:
[Philweb]
Es wurde schon viel hier zu obigem Betreff geschrieben. Nur sehr
wenige haben sich dazu geäußert. Nun fand ich heute morgen einen
Artikel, und frage, ob so ein Link hier angeben darf. Dort gibt die
Autorin sich selbst nicht den Namen "radikale Konstruktivistin", das
Lemma "Konstruktion" kommt im Artikel jedoch etwa dreizehnmal vor.
https://www.heise.de/hintergrund/Wie-das-Gehirn-unseren-Geist-erschafft-622…
von Lisa Feldman Barrett (Professorin für Psychologie)
Ob sie kompetenter ist als die hier Diskutierenden, würde mich
interessieren,
ob der Artikel sie als "radikale Konstruktivistin" entlarvt,
ob ihre benutzen Wörter korrekter im Text vorkommen als die Wörter,
die hier benutzt werden,
ob der Artikel den Nagel besser auf den Kopf trifft als die hier schon
geschriebenen Texte,
ob es auch dort fragwürdige Instanzen gibt, die den Geist in der
Maschine erforderlich machen,
ob "das Gehirn" ein Vermögen im Sinne der Vermögenspsychologie verdeckt,
ob weitere Vermögen dort zu einem falschen Denken führen bzw. führen
müssen,
was dort fehlt oder falsch ist,
ob die Zuschreibung "radikaler Konstruktivist" überhaupt sinnvoll ist,
wobei offen sein soll, ob die Zuschreibung eher nominalistisch,
definitorisch oder begrifflich gedacht werden soll.
Ich kann nur sagen, dass diese Fragen bei mir entstehen, wenn ich das
Wort "Wahrheit" im Betreff nicht ignoriere.
JH
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