Am 24.03.2023 um 10:01 schrieb Ingo Tessmann über
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Moin Karl,
wie schon wiederholt angemerkt, hatte Aurel „die menschlichen Gemeinschaften“ kürzer zu
charakterisieren vermocht: „Die Menschen sind für einander geboren. So lehre oder dulde,
die's nicht wissen.“ In Mathematik und Physik werden im nachmetaphysischen Zeitalter
Horizonte erweitert, warum nicht auch in der Philosophie? Das ständige Durchkauen der
Klassiker kann es nicht sein, bilden sie doch allenfalls einen Anfang, der ebenfalls
systematisch möglich ist. Wie Metzinger in seinem Buch ausführt, ist Spiritualität auch
säkular möglich.
Moin moin Ingo.
mein „Profil“ genau kennend, kannst Du Dir bestimmt denken, dass ich mit Metzinger nicht
viel anfangen kann, was sich nicht auf inhaltlich korrekte Aussagen, sondern den Duktus
seiner Schriften bezieht. Und natürlich ist Spiritualität auch säkular möglich, wenn nicht
sogar in ihrer lebenspraktischen Ausgestaltung die bessere Wahl, sofern sie nicht in
fragwürdige esoterische Praktiken abgleitet.
Ich denke, wir beide sind uns völlig einig und klar darüber, das Naturwissenschaft und
damit auch Mathematik den entscheidenden Anteil an der Aufklärung und somit zur Auflösung
dogmatisch, also insbes. religiös geprägter Denkmodelle in der Geisteswissenschaft
beigetragen haben; zudem auch gesellschaftlich die literarische Epoche des Mittelalters
mit ihrem übermächtigen Bezug auf Religion, fragwürdigem Heldentum (einem Epos, dem schon
Aurelius kritisch gegenüber stand) überwunden und damit die von Dir zuletzt angeführte
linguistische und kulturelle Wende eingeleitet hat.
Wie sollte ich also, dieses sehr wohl wissend, einer literarischen Rückwendung der
Philosophie das Wort reden!?
Mein Bezug auf Aristoteles gründet fraglos auf meiner religiösen Sozialisierung, dem
Studium der Philosophie (neben Ingenieurwesen) und meiner Bewunderung für maßgeblich frühe
Denker der Menschheitsgeschichte. Das Anerkenntnis dieser Leistung kann jedoch keinesfalls
meine moderne, naturwissenschaftliche Sicht auf die heutige Lebenswelt verblenden, zudem
ich zutiefst davon überzeugt bin, dass nur der interdisziplinäre Bezug auf beide
Wissensbereiche, Geistes- und Naturwissenschaft, zu einem hinreichend ganzheitlichen
Weltbild führen kann.
Nicht blenden lasse ich mich von Sichtweisen, die unsere gegenwärtige Epoche als
„nachmetaphysisch“ einstufen. Da können auch diverse Wortspielchen von Waldemar mit
„Meta-Irgendwas“ nicht mit dem Ziel ablenken, diese Begrifflichkeit dümmlich
herabzusetzen, denn Metaphysik ist nach wie vor eine geisteswissenschaftliche
Teildisziplin der wissenschaftlich gelehrten Philosophie.
Ich sollte doch wirklich hier nicht noch einmal darlegen müssen, dass „Meta“, vom
Griechischen abgeleitet, für ein „danach“ steht, und somit - auf Philosophie bezogen -
eben die hinter bzw. jenseits der erkennbaren, messbaren Natur aufscheinenden Phänomene
als Metaphysik benennt und behandelt.
Da selbstredend viele dieser Phänomene nach wie vor nicht erklärbar sind, befinden wir uns
keinesfalls in einem „nachmetaphysischen Zeitalter“, sondern es gilt uneingeschränkt, die
weiterhin hinter der derzeit bekannten Faktizität der Physik verborgenen Rätsel zu
entschlüsseln, so z.B. das Phänomen der gravitativen Wechselwirkung im Kontext der
Quantentheorie. Würde sich dabei bestätigen, dass Quantengravitation die Vereinheitlichung
aller bekannten Wechselwirkungen bedeutet, wäre das in der Tat ein epochales
Wissenschaftsereignis, das dennoch nicht zum Ende der Metaphysik führen würde; genau so
wenig wie zum Ende der Philosophie, die ihrerseits als Wissenschaft längst nicht mehr nur
den „spirituellen“ Part diverser Weltbilder in Betracht nimmt, sondern sich als „Königin
der Wissenschaft“ im neuen Kleide dieser Zeit über alle Wissensbereiche dieses Lebensraums
erhebt, exakt in dem Sinne, wie Du es beschrieben hast: „In der Philosophie hat es eine
linguistische, eine pragmatische und eine kulturalistische Wende gegeben.“ Und auf dieser
Basis wird dieser Wissenschaftszweig weiterhin zu signifikanter Erweiterung und Vertiefung
von Wissen und Erkenntnis der Menschheit beitragen.
Bester Gruß! - Karl
Und über Aristoteles hinaus gehend, schwebt Ann-Sophie Barwich eine geradezu empirische
Philosophie vor, indem sie am Beispiel des Geruchsinns hervorhebt, dass "empirically
grounded philosophical outlooks may complement scientific explanations of discordant data
and conceptually clarify divergent models.“ Siehe dazu "From Molecules to Perception:
Philosophical Investigations of Smell“:
https://compass.onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1111/phc3.12883
Ich sehe in der mathematischen wie in der empirischen Philosophie eine Verbesserung der
Philosophie zu mehr Verständlichkeit und Genauigkeit. Über den Menschen und sein Glück
lässt sich ohne metaphysische Schaumschlägerei und religiöse Inbrunst freier und
vernünftiger philosophieren. Bedenke nur einmal den Fortgang der Verbindung zwischen
Potential- und Wahrscheinlichkeitstheorie, der die metaphysische Schaumschlägerei des
Aristoteles weit hinter sich ließ, beginnend 1828 mit "An Essay on the Application of
mathematical Analysis to the theories of Electricity and Magnetism“, by George Green und
bis 2002 nachvollzogen in "Green, Brown, and Probability“, by Cai Lai Chung.
Interessanter als Aristoteles ist auch Mary Hesse’s Rückblick auf den Fortgang der
Fernwirkungstheorien von 1970 in: "Forces and Fields. The concept of Action at a
Distance in the history of physics“. Cramer und Kastner haben die Geschichte ja ein Stück
weiter gebracht.
IT
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