Lieber Karl,
danke für den Hinweis auf den wirklich sehr sympathischen Julian Barbour!
In seinen (und Euren) Themenbereichen bin ich blutiger Laie, und damit unausweichlich
stümperhaft, wenn ich mich dazu äußere. Was ich verstanden habe deckt sich aber mit Deiner
Interpretation:
geht Barbour von jeweiliger Zeitentwicklung (Beginn eines individuellen Zeitpfeils) ab
einem Nullpunkt als Zustand von „Timelesness“ dem „Januspunkt“ aus. Damit gibt es (im
Gegensatz zu Lee Smolins Ansicht) für Babour keine globale Zeitgrösse
Barbours „Januspunkt“ ist von herausragender Bedeutung bei der Betrachtung Entropie im
Universum. Barbour sieht darin Ursprung und mit dem Zuwachs von Ordnung als Antrieb für
den Zeitenlauf.
Barbour nutzt als Anfangsthese die der Gegebenheit von Struktur, und beschreibt Vorgänge
aus Sicht der Struktur, somit aus deren sinngemäßem „Innen“. Er ordnet die Zeitschöpfung
der jeweiligen Struktur zu, und benennt dabei einen gleichfalls jeweiligen Anfang, in dem
das Zeiten zwar der Möglichkeit nach enthalten ist, aber noch nicht - auch nicht im
Hinblick auf eine bestimmte „Richtung“ der Veränderung - verwirklicht ist.
In formaler Terminologie beschreiben wir diese Noch-Nicht-Zeit als nascent time, deren
Charakteristikum ausseer dem oben Genannten auch die zunächst nicht etablierte Bezogenheit
ist. Der in unserer Gruppe tätige Physiker beschreibt darin die möglichen
Zustands-Veränderungen einer „Eigenschaft“ (die wir im weiteren provider of dynamic
coherence nennen) als mathematische Gruppe (vorwärts, rückwärts, gleichbleibend).
Individuelle Zeitachsen entsprechen bei uns individuellen semantischen Achsen.
Was bei Barbour fehlt ist eine Befassung damit, was es denn heißt, „Struktur“ zu sein, und
was sich daraus für das Interagieren mit anderen Strukturen und deren strukturiertem
Vorgehen ergibt.
Hier braucht es ein Konzept des attunement, zu dem Schwingungsmetaphern einigermaßen
passen - aber nur einigermaßen, weil wir in unserem Modell die „box“, den „außen“
liegenden Rahmen, von dem nach Barbour die Thermodynamik und Astrophysik ausgehen gerade
nicht voraussetzen.
Die Definition des „Now“-Moments ist - mit völlig anderem Instrumentarium betrachtet -
auch ein Thema der Entwicklungspsychologie, genauer von Daniel Stern.
So viel auf die Schnelle, nochmal Allen Dank für die anregende Unterhaltung, und mit
gehöriger Bescheidenheit, was mein Nichtwissen bezüglich Physik angeht.
Viele Grüße
Thomas
Am 01.05.2022 um 04:32 schrieb Karl Janssen via
Philweb <philweb(a)lists.philo.at>at>:
[Philweb]
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Am 29.04.2022 um 18:56 schrieb Ingo Tessmann
<tessmann(a)tu-harburg.de>de>:
Am 29.04.2022 um 18:03 schrieb Karl Janssen
<janssen.kja(a)online.de>de>:
Dieses eben genau nicht! Wie kommst Du nur darauf? Allenfalls ist diese
Fehlinterpretation für mich erklärlich, dass Du mir gegenüber (im Zweifel) immer
metaphysische Denkmuster „ankreidest“ und ich es obendrein offensichtlich nicht vermag,
meine Vorstellungen von „Gott und der Welt“ verständlich zu formulieren. Nun sehe ich
nochmal kurz auf das von mir diesbezüglich zuletzt Geschriebene zurück - ich schrieb (auf
Barbours Leugnung von Zeit „The End of Time“ abhebend):
Seitens der Physik erscheint es mir verwegen (wenn nicht absurd), Zeit als entsprechende
Größe (wenngleich - im Mikrokosmos- nicht fundamental) zu leugnen. Man wird mit Fug und
Recht das Vorhandensein von Materie resp. Energie und damit von der Gültigkeit deren
Äquivalenz ausgehen können (e =mc^2).
...
Es bleibt dabei für mich dabei: entweder habe ich
nichts von all dem begriffen, was hier über Energie/Materie und deren fortwährende
Änderung pro beliebigem Zeitabschnitt (Entropie) geschrieben wird oder Ich liege nicht
falsch, wenn ich Barbours Postulat von der Nichtexistenz einer Zeit eher im Bereich von
Esoterik (seine Vorstellung von Allverbundenheit), bestenfalls nich als Metaphysik
ansiedle.
Hi Karl,
ich habe Dich offensichtlich missverstanden und Du hast Barbour nicht verstanden bzw.
nicht hinreichend weit gelesen;
Die Anmutung, Julian Barbour nicht verstanden zu haben, kommt jener in die Nähe, er würde
Zeit - an sich - als nicht existent ansehen. Diese Annahme wird als seine These
(populär)wissenschaftlich verbreitet und er selbst trägt mit dem Titel seines Buches „The
End of Time“ zu diesem Missverständnis bei.
Davon abgesehen, dass J. Barbour mir sehr sympathisch ist, seine „Talks“ und Beiträge zu
Podiumsdiskussionen von außerordentlicher fachlicher wie menschlicher Kompetenz zeugen,
kommen manche seiner „Statements“ (vermutlich seinem ausgeprägten britischem Wesen
geschuldet - ähnlich dem von Penrose, wie ich meine), mit einer deutlichen Attitüde von
gewitztem Humor und einem gewissen Hang zu Überzeichnungen (damit schwierige
Zusammenhänge heraushebend) herüber.
Ein weiteres Problem ist, dass derartig plakative Äusserungen wie eben „The End of Time“
oder auch beispielsweise Carlo Rovellis „Time does not exist“ vornehmlich vom
Wissenschaftsjournalismus entsprechend plakativ publiziert werden. Mit dem Ergebnis, dass
nicht wenige Leute sich dann diese Aussagen unhinterfragt zueigen machen, andere sich
verwundert der entsprechenden Thematik zuwenden und versuchen, sich ein eigenes Bild zu
machen.
Denn genau auf diese jeweiligen Bilder und demnach unterschiedliche Interpretationen und
Sichtweisen kommt es bei derartigen Betrachtungen an.
Rovelli gilt als Idealist, sein Physikerkollege Smolin als ausgemachter Realist. Beide
sind befreundet, haben aber - besagten Zeitbegriff anbelangend - grundsätzlich
unterschiedliche Denkansätze und Auffassungen; beide liegen richtig, auf eben
unterschiedlichen Perspektiven gründend.
Julian Barbours These sehe ich in der Nähe von Rovellis Ansicht; während dieser der Zeit
Im Mikrokosmos keine fundamentale Bedeutung zuschreibt (wenngleich man ja Zeit durchaus
als Taktmass von Halbwertszeiten resp. der Angabe deren Dauer nutzt), geht Barbour von
jeweiliger Zeitentwicklung (Beginn eines individuellen Zeitpfeils) ab einem Nullpunkt als
Zustand von „Timelesness“ dem „Januspunkt“ aus. Damit gibt es (im Gegensatz zu Lee Smolins
Ansicht) für Babour keine globale Zeitgrösse und kommt mit seinem „Bekenntnis“ dem des
Kirchenvater Augustinus nahe:
„Wenn man die Zeit packen möchte, entgleitet sie einem immer wieder“ (Julian Barbour)
So weit für den Augenblick, ich denke, wir sind noch lange nicht am Ende dieser
Diskussion (selbst wenn wir diese hier abbrechen wollten)
Beste Grüße! - Karl
PS: Barbours „Januspunkt“ ist von herausragender Bedeutung bei der Betrachtung Entropie
im Universum. Barbour sieht darin Ursprung und mit dem Zuwachs von Ordnung als Antrieb für
den Zeitenlauf. Das scheint dem 2. HS der Thermodynamik zu widersprechen (welch provokante
Annahme wiederum!). Das unterstreicht er wohl mit dem großspurig anmutendem Untertitel
seines Buches „The End of Time“.
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