Hi IT,
ich weiß erstens nicht, ob sich diese Unterscheidung wirklich auf Cl. berufen kann (wenn
der Krieg die "Verlängerung der Politik" ist, dann hat es gerade keinen Sinn
mehr, "politische" und "militärische" Kriege auf diese Weise
voneinander zu unterscheiden). Fragwürdig ist dann aber v.a. deine Behauptung, es gebe
nicht-militärische, nur-"politische Kriege": was soll das sein? Jedes verbale
Säbelrasseln, jede Rhetorik irgendeines öffentlich herumschwadronierenden Volkstribunen
("ceterum censeo...") ist dann schon "Krieg"? Damit wird der Begriff
doch völlig unscharf; denn auch das Kriterium "dem anderen das Existenzrecht
absprechen" ist ja kein wirklich sehr präzises, denn jede Form von
Streit/Auseinandersetzung/Konflikt beruht doch, wenn man so will, praktisch schon darauf;
jedes gegen mich gerichtete Recht-haben-wollen spricht mir z.B. das Existenzrecht ALS
einer, der auch Recht hat und hier "zu Recht" reden darf, ab. Jede Forderung,
meine Meinung zu ändern und zu überdenken, stellt doch auch meine "Existenz" in
Frage, weil ich eben ein so-und-nicht-anders-Denken(-Können)der BIN (genau deswegen
reagieren wir ja auf Kritik meist so aggressiv). Und andererseits sind ja auch die von dir
genannten großmäuligen Vernichtungsdrohungen (arabische Staaten, China) kaum wirklich
wörtlich zu nehmen. Als einzige wirklich radikale, physisch-tatsächliche Realisierung
einer solchen öffentlich ausgesprochenen "Negation des Existenzrechts" muß
wahrscheinlich der in dieser Form deswegen historisch einzigartige Holocaust angesprochen
werden - und den würde man ja nicht als Folge eines "Kriegs" der Nazis gegen die
Juden bezeichnen.
JL
-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: Ingo Tessmann über PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at>
Gesendet: Freitag, 19. Juli 2024 17:17
An: philweb <philweb(a)lists.philo.at>
Cc: Ingo Tessmann <tessmann(a)tu-harburg.de>
Betreff: [PhilWeb] Re: Gewalt ist (k)eine Lösung?
Hi JL,
ich wiederhole im Anschluss an Cl.: neben dem typischen gewaltsamen Krieg im mörderischen
Waffengang gibt es die Vielfalt politischer Kriege. Warum reicht Dir die Unterscheidung
nicht aus? Was ginge Dir darüber hinaus? Denn jeder Krieg, sollte er nicht rein zufällig
geschehen, ist immer auch politisch und nicht nur militärisch. Aber nicht jeder politische
Krieg ist auch militärisch. Staaten, die einem anderen Staat das Existenzrecht absprechen,
führen bereits einen politischen Krieg, so wie bspw. einige arabische Staaten gegen
Israel, oder China gegen Tibet, Taiwan und die Uiguren. Wobei Israel seit 1948 wiederholt
auch militärisch angegriffen wurde und es Taiwan nur noch gibt, weil es unter dem Schutz
der USA steht.
IT
Am 19.07.2024 um 15:28 schrieb Landkammer, Joachim
über PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at>at>:
Hier nurmal ein paar erste Überlegungen zum allerersten Absatz des
besagten Kapitels (6.1). Interessiert ja wahrscheinlich niemanden
hier, weil man offenbar lieber freidrehende Allerweltszeitdiagnosen
verkündet; ich schreib das hier dann einfach vor allem für mich selber
auf. (Und bin erst bei der ersten Seite des40-seitigen Kapitels...)
Clausewitz (ab jetzt Cl.) will offenbar v.a. darauf aufmerksam machen, daß die
konventionellen Kriegsbeschreibungs-Begriffe viel zu unscharf sind, um dem uneindeutigen
Geschehen auf dem „Kriegstheater“ (Cl.s Ausdruck) gerecht zu werden; das gilt schon für
den scheinbar elementar-einfachen Begriff der „Verteidigung“. Das damit Gemeinte (also:
nur reagieren, nur den „Stoß“ des anderen abwarten) muß relativiert werden, denn wenn sich
Verteidigung darauf vollständig beschränken würde, wäre das eben jene (schon
angesprochene) märtyrerhafte Option der völligen Gewaltlosigkeit, die verhindert, daß es
zu einem „Krieg“ überhaupt kommt - freilich mit dem hier bereits diskutierten Risiko der
vollständigen „Auslöschung“: aber selbst das wäre eben dann "einkalkuliert"; man
will dann lieber tot sein als sich dem Odium der eigenen (!) Gewaltausübung auszusetzen
(will sich „die Hände nicht schmutzig machen“); man kennt die Fälle, in denen jemand, der
einen lebensbedrohlichen Angreifer in reiner „Notwehr“ getötet hat, trotzdem lebenslang
Gewissensbisse hat.
Daher meint Cl., daß das „Merkmal des Abwartens und Abwehrens“ nur relativ ist, es kann
auch schon zur Kriegsstrategie gehören (es kann also schon echter „Krieg“ sein), wenn man
einen Angriff abwartet (in einer wohlpräparierten Festung oder Gefechts-Stellung z.B.):
denn man hat sich ja damit schon zur Gewaltanwendung längst entschlossen, man wartet nur
noch den „richtigen“ Moment ab, weil das eben die vorteilhaftere Kriegsstrategie ist. Auf
den Angriff zu „warten“, ist also keine prinzipiell nicht-bellizistische, „pazifistische“
Option, sondern ein Modus der Kriegsführung wie andere auch. Und andersherum wird man
ebenso zugeben müssen, daß auch „offensive“ Aktionen eigentlich verteidigenden „Sinn“
haben können, wie all das, was sich als Prävention rechtfertigen will (bis hin zur Phrase
vom Angriff als „beste Verteidigung“). Kap. 6.1 schließt so:
„Die verteidigende Form des Kriegführens ist also kein unmittelbares
Schild, sondern ein Schild, gebildet durch geschickte Streiche.“ Das lese ich so: Es gibt
keine rein defensive Kriegstaktik (die römische Formation "Schildkröte" bei
Asterix), sondern wer sich überhaupt verteidigen will, muß auch (pro)aktiv sein, nicht nur
sein Schild (Scutum) hochhalten, sondern mit der anderen Hand auch das Schwert benutzen.
Das Aktive und das Passive gemeinsam machen erst die (sinnvolle, erfolgversprechende)
Verteidigung aus.
Was immer Cl. damit sagen will, eines scheint er eben auf jeden Fall ausschließen zu
wollen: Angriff und Verteidigung lassen sich durch die üblichen Koordinaten von Zeit und
Raums NICHT (so ohne weiteres) unterscheiden: weder ist der, der „angefangen“ hat, per se
der Angreifer, noch der, der nur reagiert, der Verteidiger („ab 5.45 Uhr wird
zurückgeschossen“ ist ja die Standardlüge zu praktisch jedem Kriegsausbruch), noch ist
der, der auf „eigenem Territorium“ kämpft, deswegen schon der Verteidiger (man kann zur
effektiven „Verteidigung“ die eigenen Landesgrenzen überschreiten müssen: auch das zeigt
der Ukraine-Krieg gerade). Also: alle diese „einfachen“ binären Beschreibungen und
Zuordnungen (die uns ja letztlich nur die moralische Wertung gut/böse bzw. die
Identifikation Freund/Feind erleichtern sollen) sind falsch, zumindest: fraglich. Und
daher: kaum hilfreich.
(Und nur als „popkulturelles“ Beispiel: das (z.B. früher in der DDR) gern zur
Rechtfertigung von Aufrüstung herbeizitierte Wilhelm-Busch-Gedicht „Bewaffneter Friede“
vom Igel als „Friedensheld“ ist eben vielleicht auch nur wenig durchdachte
Poesiealbums-Folklore).
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