Wie freue ich mich doch, Joachim, endlich wieder einen Beitrag von Dir
hier in philweb zu lesen!
Dieses definitiv unabhängig davon, dass ich darin von Dir als einer der
Protagonisten der jüngst etwas kontroversen Diskussion zu
Religion/Kirche angesprochen werde.
Wie dringend dieses philweb-Forum auf konsistent geistreich und
fachkundig formulierte Beiträge angewiesen ist, seien es kurze
Stellungnahmen oder als Essay angelegte Einlassungen, zeigt das
Diskussionsgeschehen der vergangenen Monate.
So erfreulich die rege Beteiligung (der leider nur wenigen aktiven
List-Teilnehmer) und auch deren viele Beiträge sind, so sehr lassen sie
einen umfassend fundierten „Tiefgang“ vermissen.
Kritik an derart meist fragmentarisch angelegten Diskussionen kommt
bisweilen auf und Du hast diese hier nun sehr eingängig präzisiert.
Es ist schon klar, dass beispielsweise die Beiträge von Thomas, die
ihrerseits definitiv den von mir angesprochenen „Tiefgang“ haben, nicht
so eben mal nebenbei zu lesen, geschweige denn zu rezipieren und ggf. zu
beantworten sind. Aber das damit herausgeforderte Nachdenken über derart
fundiert formulierte Konzeptionen/Projekte würde ja gerade dem Anspruch
und Wert dieses Forums entsprechen, sich in jeweiliger Weltsicht weiter
entwickeln zu können.
Das kann jedoch nicht gelingen, wenn darauf bezogene Diskussionen in Art
antizipierender Quintessenz „abgewürgt“ werden; daraus folgt, dass
Diskussionen solange "ergebnisoffen" geführt werden sollten, bis man
sich gemeinschaftlich an eine größtmögliche Schnittmenge
allgemeingültiger Argumentation angenähert hat.
So möchte ich hier schließen, nicht ohne noch einmal meine Freude über
Dein „Lebenszeichen“ wie ebenso meine Hoffnung auszudrücken, nunmehr
wieder öfter Beiträge zu (hoffentlich mehr philosophisch und weniger
ideologisch angelegten) Diskussionen hier von Dir vorfinden zu dürfen.
Mit bestem Gruß für Dich und in die Runde! - Karl
Am 16.04.2021 um 11:04 schrieb Landkammer, Joachim via Philweb:
[Philweb]
Liebe Liste (?),
ich lese und schreibe hier ja praktisch nur noch aus Versehen mit, und wenn ich die
letzten Posts in dieser Sache so überfliege, weiß ich auch gleich wieder, warum...
Aber auch wenn Karl J. das am wenigsten nötig hat, dann will ich doch nochmal hier meinen
Hut für ihn und seine Position, besser: seine "Haltung", in den Ring werfen,
ganz einfach, weil sie mir, völlig abgesehen von allem anderen, die
"philosophischere" und "zeitgemäßer philosophische" zu sein scheint.
Denn ich halte es für ziemlich altbacken und unphilosophisch, wenn hier immer noch mit
dem guten (nein: schlechten) alten Aufklärungsfuror pauschale Verdammungsurteile
pronunziert werden, von den höheren Kanzeln einer selbst berufenen, durch
"historische" und ökonomische "Fakten" gestützten Vernunft herab - als
ob das überhaupt etwas damit zu tun hätte. (Das ist ein bißchen wie auf die
"Pharmaindustrie" zu schimpfen, nur weil sie jetzt mit dem Impfstoff weltweit
Milliarden verdient... sollen wir stattdessen lieber nicht impfen oder wie?).
Was immer es gegen die Institution "Kirche" zu sagen gibt (und es gibt
vielleicht in historischer Hinsicht und mit institutionenreformierender Absicht eine Menge
zu sagen), es kann ja wohl kaum geleugnet werden, daß sie die einzige soziale stabile Form
ist, in der heute noch so etwas wie die Idee eines "Mehrwerts" an
"Sinn" über den blöden Alltag, den dumpfen Konsum, die eigenen politischen
Interessen, die dauernde egozentrische Selbstbeweihräucherung und das ganze langweilige
endliche Leben hinaus artikulierbar bleibt. Und man sage jetzt nicht, daß dafür doch
längst alternative, laizistische, von dieser schröcklich-mittelalterlichen Vergangenheit
glücklich befreite und emanzipierte "Sinn-Lieferanten" bereit stünden: das
meiste davon läuft auf Esoterik, Sektarismus (z.B. unter dem Banner des sog.
"Humanismus"...), und sonstige breitbeinig-populistische
weltlich-allzu-weltliche Ideologien hinaus. Ich würde die Vermutung in den Raum stellen:
alles, was heute auch nur einen minimalen Schritt über den blanken
Fakten-Fakten-Fakten-Positivismus und seinen stupiden Reduktionismus hinausgehen will, muß
in der einen oder andern, mal mehr mal weniger deutlichen Form "religiös" sein,
oder meinetwegen "metaphysisch", was ja nur heißt (heißen könnte): denkerisch
mit dem Undenkbaren umgehen, reflektiert mit sich der Reflexion Verweigerndem rechnen,
rational das Irrationale das "Andere des Denkens" sein zu lassen usw. usw. Und
dazu gehört dann auch die Vermutung, daß Vorläufer, Anregungen, Debatten, Theorie-Schulen,
Publikationen u.a. für ein SOLCHES Denken eben nur im "Schutzraum" (heute:
"safe space") einer Institution zu finden waren und sind, die durch die
Stabilität ihrer ganzen historisch gewachsenen, rechtlichen, administrativen,
ideengeschichtlichen Struktur eben zumindest die bleibende Relevanz dieser EINEN,
vielleicht aber menschheitsüberlebenswichtigen Idee garantiert: es gibt mehr als den
Alltag, die Materie, die Wissenschaft, das Fressen. (Vgl. Luhmann 1993 über Jura und
Theologie: "Anscheinend können Funktionssysteme gerade dann, wenn sie
'Dogmatik' als Grundlage ihrer Selbstbeschreibung akzeptieren, hinter diesem
Schutzschirm größere Reflexionsfreiheiten mobilisieren.")
Und bevor jetzt gleich, sehr erwartbar, mit Ketzerprozessen und brennenden Scheiterhaufen
gegen diese "Reflexionsfreiheit" argumentiert wird: daß "Dogmatik"
ihre Kosten und ihren Preis hat, kann man seit Foucault nicht mehr für eine archaische
Besonderheit der kirchlichen "Diskurshegemonie" halten; das gilt für jede Form
von Wahrheitsbehauptung (und wie exkludierend und moralistisch demütigend gerade das sog.
"aufgeklärte" kirchenkritische Lager agiert, konnte man auch hier nachlesen...da
konnte man mit sensibler Olfaktorik die Feuerhölzchen für die Scheiterhaufen auch schon
riechen...). Und gerade dann könnte es von Vorteil sein, wenn als um die sog.
"Wahrheit" besorgte Instanz eine Institution auftritt, die von vornherein
konzediert, daß ihr diese von "außen" vorgegeben ist, daß sie nicht (und für
niemanden!) "verfügbar" ist (es gibt daher natürlich auch Grenzen für die immer
wieder tendenziös angeführte und mißverstandene "Unfehlbarkeit des Papstes"!),
daß Wahrheit eine Frage der unendlichen "Interpretation", der Exegese, der
Auslegung und Deutung ist, für die es ("in dieser Welt": also fast überall)
keine objektiven Verifizierbarkeiten gibt. Und nur das heißt "Sinn", nur in
dieser instabilen unsicheren Form ist er überhaupt irgendwo zu "haben", und
insofern ist und bleibt religiöser Sinn der Archetyp von Sinn(nicht)verstehen überhaupt,
egal unter welcher Travestie diese heute auftritt (und gerade auch, wenn es sich offen
anti-religiös und anti-kirchlich gibt: was wären denn etwa Nietzsche oder Küng oder
Drewermann oder Deschner ohne Kirche?).
Alles andere ist Positivismus, Faktenhuberei ("Statistik"), Un-Sinn. Zumindest:
keine Philosophie.
Freundliche Grüße
Joachim Landkammer