Am 12.02.2020 um 20:09 schrieb K. Janssen
<janssen.kja(a)online.de>de>:
Die Adepten dieser „neuen Religion“, als selbsternannt
integre Wächter von Moral und Tugend, treffen selbstredend nicht auf intellektuell
getragenen Widerstand (aus eigenen akademischen Reihen), sondern erzeugen (ungewollt oder
auch dümmlich) Widerstand bei jenen, die sich dieser Ideologie und einem jeweils sich
daraus entwickelnden medialen Spießrutenlauf auf ihre Weise zu widersetzen suchen. Darum
wurde in einem gesellschaftlich zutiefst gespaltenen Land (als Ursprungsraum dieser
Entwicklung) ein Präsident gewählt, der sich offenbar darauf eingerichtet hat, zwischen
Fronten von Hass und Zuspruch zu regieren. Über unsere hiesigen Verhältnisse muss ich kein
Wort mehr verlieren. Natürlich haben wir auch hier (europaweit) eine tiefe Spaltung der
Gesellschaften. Wenn man das nicht sehen kann oder will, lebt man offenbar in einer Wolke
bzw. weit inmitten einer der geteilten Sektoren.
Hi Karl,
ich hatte wiederholt vier notwendige Kriterien für die Definition von Religion aufgeführt:
Mythen, Dogmen, Rituale, Symbole. Die führst die "neue Religion" nur an, aber
was steckt denn bei den "selbsternannten Tugendwächtern" mehr dahinter als ihre
Haltungen, Mahnungen, Appelle und Warnungen?
In den USA sehe ich ebenfalls eher eine Spaltung der Gesellschaft als in der BRD oder auch
Westeuropa. Demokraten und Republikaner stehen sich gegenüber wie hier einst Sozis und
Christen. Generell ist aber der christlich-moralische Rigorismus in den USA unter
Republikanern wie Demokraten sehr viel stärker ausgeprägt als hierzulande.
Walter Reese-Schäfer verweist in seinem Buch "Grenzgötter der Moral“ im Kapitel
"Demokratische Tugendlehre“ auf eine Art von Zivilreligion:
https://www.uni-goettingen.de/de/grenzg%c3%b6tter+der+moral/318513.html
"Für die USA war es wie bei so vielen prägenden und charakteristischen
Analysebegriffen Alexis de Tocqueville, der feststellte, das Land werde von Menschen
bevölkert, „die, nachdem sie die Autorität des Papstes abgeschüttelt hatten, keine andere
religiöse Oberhoheit anerkannten: Sie nahmen in die neue Welt eine Form des Christentums
mit, die ich nicht anders benennen kann als eine demokratische und republikanische.“
Religion war nicht antiklerikal oder diesseitig wie die Vernunftreligion, die im
revolutionären Frankreich kurzzeitig propagiert wurde, sondern bot weitgehende
Identitätsmöglichkeiten und eine vereinheitlichende politische Symbolik, die etwa am
Erntedankfest, am Memorial Day (der Gedenktag an die im Krieg Gefallenen), am
Unabhängigkeitstag und vielleicht noch für Schulen an den Geburtstagen George Washingtons
und Abraham Lincolns zelebriert werden konnte. „Hinter der Zivilreligion stehen überall
biblische Archetypen: Exodus, das auserwählte Volk [Lincoln sprach vom „beinahe
auserwählten Volk“], das gelobte Land, das Neue Jerusalem, der Opfertod und die
Wiedergeburt.“ Aber sie hat auch „ihre eigenen Propheten und ihre eigenen Märtyrer, ihre
eigenen Feiertage und Heiligtümer, ihre eigenen feierlichen Rituale und Symbole."
Einem Verständnis von Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit folgend, wäre ein
Ökoliberalismus wünschenswert, für den es aber schwerlich irgendwo einmal eine Mehrheit
geben dürfte. Soweit ich weiß gibt es lediglich in der Schweiz eine grün-liberale Partei,
die GLP, aber die Schweizer sind den Deutschen hinsichtlich der Demokratie eh um
Jahrhunderte voraus. Demnächst wird ja hier in Hamburg gewählt und ich bin gespannt, wie
es ausgehen wird.
Es grüßt,
Ingo