Kant scheint das Wort "Erfahrung" in mindestens doppeltem Sinn zu verwenden,
Ingo, und es kommt mir nicht unwesentlich vor, die verschiedenen Bedeutungen nicht in
einen Topf zu werfen.
Einmal meint er damit alles, was einem zustösst, das ist dann "synthetisch a
priori" zeitlich oder, wenn es sich um physische Objekte oder Bewegung handelt,
dreidimensional räumlich.
Zweitens verwendet er es in dem Sinn, in dem wir von einem erfahrenen Menschen reden als
von jemandem, der sich gemerkt hat, was ihm zugestossen ist und seine Schlüsse daraus
gezogen hat. Und nur in diesem zweiten Sinn bedeutet Erfahrungen zu machen oder zu sammeln
kausal zu denken.
Zu Hume sagt Kant ja selbst, es wäre zum Fremdschämen, wie ihm immer vorgehalten würde,
was das kausale Denken doch für eine Errungenschaft wäre, auf die wir praktisch gar nicht
verzichten könnten - als ob Hume das je bestritten hätte. Diese praktische Bedeutung
reichte Kant aber nicht und so kam er wohl darauf zu sagen, dass ohne kausales Denken das
Leben nicht nur schwierig oder praktisch unmöglich wäre, sondern es überhaupt keine
Erfahrung geben könne. Aber, und das sagt er nicht, nur im zweiten oben beschriebenen
Sinn, also archivierend und Schlüsse für die Zukunft ziehend. Nicht, wenn man unter
Erfahrung ein passiv empfangendes Geschehen versteht.
Dass diese lernende Erfahrung darin besteht, kausal zu denken, hätte Hume wohl kaum
bestritten. Nur dass das etwas daran ändert, dass der Mensch nicht viel mehr als ein
höheres Gewohnheitstier ist, um es zugespitzt zu formulieren, immerhin ein höheres - was
Kant, dem Wissenschaft alles bedeutete, gegen den Strich ging.
RF hat ja hier einiges dazu gesagt, dass die Weltanschauung weniger durch ergebnisoffene
Betrachtung der Welt entsteht als durch den eigenen Charakter.
Claus
Am 22. Februar 2025 10:01:39 MEZ schrieb "Ingo Tessmann über PhilWeb"
<philweb(a)lists.philo.at>at>:
Moin Claus,
Deine alltagsbezogenen Anmerkungen sind zumeist treffend und plausibel, so auch die
untenstehenden zu Annahmen über Kant. Jedenfalls war Kant seiner Zeit verhaftet ein
Vernunftsphilosoph der Aufklärung, die er durch Hume gefährdet sah. Und so verlegte er das
Kausalitätsprinzip als eine Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung ins transzendentale
Ich. Weizsäcker und Lorenzen knüpften daran an, erweiterten aber sprachkritisch, logisch
und mathematisch den Horizont. Bei Weizsäcker strukturell von der Zeit- und Quantenlogik
bis in die Ur-Theorie, bei Lorenzen aus dem Herstellungs-Apriorie heraus über die
Dialogische- und Modallogik bis in die Bestimmung von Empirie durch die quantitative
Experimentalwissenschaft. Damit wird das innere transzendentale Ich wieder quantitativ auf
die Außenwelt bezogen, indem die logisch notwendigen Schlüsse aus den Verlaufsgesetzen an
die Messwerte der Experimente gebunden bleiben. Wie wesentlich quantitative Beziehungen
für die Kausalität sind, zeigen ja besonders die Dosis-Wirkungsbeziehungen in der Medizin.
IT
Am 21.02.2025 um 21:15 schrieb Claus Zimmermann
über PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at>at>:
Tag Ingo, ich habe die Diskussion ehrlich gesagt nicht so genau verfolgt und halte mich
deshalb raus, möchte Joseph nur darin recht geben, dass dein oben zitierter Satz für einen
Normalsterblichen wenn überhaupt nur mit einigem Interpretationsaufwand zu verstehen ist.
Versuchen wir es mal.
Unter einer Meta-Annahme würde ich eine Annahme über Annahmen verstehen.
Die Vernunftphilosophie Kants nimmt also an, dass die Kausalitätsannahme vernünftig ist.
Sagt er nicht, dass sie eine unverzichtbare Voraussetzung dafür ist, Erfahrungen der
Vergangenheit auf Gegenwart und Zukunft anzuwenden? Oder vielleicht gar nicht
Voraussetzung dafür, sondern ein- und dasselbe. Dieses Denken ermöglicht es, aus Erfahrung
zu lernen und sich in der Welt zurechtzufinden. "Hochstilisiert", wie du gern
sagst, wird es zur Erfahrungswissenschaft. Man kann es als vernünftig bezeichnen und es
steckt uns in den Knochen wie anderen Tieren auch, die nicht immer mit dem Kopf durch die
gleiche Mauer wollen. Ich würde lieber von Lebenstüchtigkeit reden.
So kann man auch annehmen, dass ein skeptizistischer Rundum- und Totalzweifel ("Was
weiss ich, ob die Sonne morgen wiederaufgeht?") unvernünftig ist.
Und Kant kritisiert an Hume vielleicht, dass er beides nicht sieht.
Ich hoffe, das einigermassen richtig interpretiert zu haben
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