Am 21.04.2020 um 02:54 schrieb K. Janssen via Philweb
<philweb(a)lists.philo.at>at>:
Doch ja, es bleibt dabei natürlich die Frage: über was sollte/wollte man
philosophieren? Antworten darauf können wir hier in Philweb hoffentlich
noch einige Zeit erörtern und ggf. auch finden.
Hi Karl,
das Leben in der Krise ist eigentlich Grund genug für das Philosophieren darüber. Während
die Ökologen jahrzehntelang eine nachhaltige Lebensweise einforderten, ist sie schlagartig
möglich geworden. Denn zeigt sich nicht gerade, was wirklich wichtig ist im Leben? Die
Gesundheit! Meine Oma pflegte zu sagen: „Jeder Wunsch wird klein, neben dem gesund zu
sein.“ Und darüber hinaus? Behausung, Ernährung, Trinkwasser und Strom. Nachhaltigern und
Eremiten reicht das zum Wohlsein. Und wer denkt da nicht an den in diesem Jahr gefeierten
Hölderlin, der sein halbes Leben im Turm verbrachte. Ich habe mir gerade einmal wieder
seinen Hyperion vorlesen lassen. Für Eremiten und Romantiker ist das Alleinsein ja
erstrebenswert und weit entfernt von beklagenswerter Einsamkeit. Um 1800 herum war das
Eremitentum ein vielfach bedachtes Thema, für den Tatmenschen aber wurde Oblomow im Zuge
der Industrialisierung zu einer Parodie der Selbstgenügsamkeit. Den Roman werde ich mir
wohl ebenfalls erneut vorlesen lassen. Und was liest Du zur Erbauung und Erheiterung?
Neben der Eremitengenügsamkeit im Gegensatz zum Eminenzengehabe wäre auch die Magie der
Zahlen einmal wieder Thema für das Philosophieren. Weltweit bestimmen die
Covid-19-Fallzahlen die Medien. Vor 2008 waren es die Börsenkurse. Über den Zusammenhang
beider wird natürlich bereits geforscht. Und wen wundert es, dass epidemiologische Modelle
auch in der Finanzwissenschaft funktionieren. Ich hatte ja schon wiederholt auf die Sepsis
hingewiesen, an der jährlich in der BRD etwa 300.000 Menschen erkranken, von denen rund
75.000 sterben. Bereits 10 Mill. Deutsche sollen mit multiresistenten Keimen (MRK)
durchseucht sein. Warum werden die Sepsisfälle nicht genauso akribisch gezählt und
problematisiert wie die Covid-19-Fälle? Weil sie sich gleichmäßiger über das Jahr
verteilen und unser Immunsystem die MRK besser in Schach halten? Interessanterweise zeigt
sich auch bei den schweren Covid-19-Fällen ein Multiorganversagen, das wie bei der Sepsis
zum Tode führt und kaum behandelbar ist.
https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736%2820%293093…
<https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(20)30937-5/fulltext>
Da junge Menschen kaum unter einer Endothelitis leiden, ist das auch ein Grund, warum
hauptsächlich die Alten schwer an Covid-19 erkranken. Andererseits liegen die Sterberaten
bei Covid-19 über alle Altersgruppen hinweg kaum höher als diejenigen, überhaupt an etwas
zu sterben. Was uns durch die ständige Konfrontation mit der Infektionsausbreitung wohl
verunsichert, ist die Konfrontation mit unserer Sterblichkeit, die wir ansonsten in der
Regel zu verdrängen wissen, obwohl sie eigentlich ja immer da ist.
Davon gehe ich aus und dies basierend auf mir aktuell
berichteten
Szenarien, wo in Familien eine Person schwer erkrankt und auch positiv
getestet wurde (eigentlich unnötig bei klarer Symptomatik, wie etwa
Atemnot, Geschmacksverlust), weitere Familienmitglieder mit eher schwach
ausgeprägten Symptomen definitiv auch befallen aber nicht getestet und
damit auch nicht in die Statistik aufgenommen wurden. Man kann sicher
annehmen, dass die tatsächliche Infizierungsrate mindestens dreifach
höher als angegeben liegt und damit die Wahrscheinlichkeit einer zweiten
Infektionswelle hoch ist. Das bedeutet, positiv für die Zukunft zu
sehen, aber auch eine höhere Durchseuchungsrate.
Die tatsächliche Infektionsrate liegt nicht nur dreimal höher als die Fallzahlen, sondern
wahrscheinlich vier- bis elfmal höher (gemäß RKI) oder womöglich sogar 50 bis 85 mal so
hoch (gemäß Umfrage in Kalifornien):
https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html
https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.04.14.20062463v1.full.pdf
Demnächst werden ja Ergebnisse repräsentativer Antikörperverteilungen in den
Bevölkerungsgruppen vorliegen. Warten wir die ab.
Das sind fundamentale Fragen zur Situation, die mein
Denken in gleicher
Art derzeit dominieren. Hier in der Region ist also wirklich ein
Infektions-Hotspot und ich beobachte Menschen in sehr unterschiedlichen
Reaktionen auf das Geschehen. Mehrheitlich hält man sich an die
Anordnung der Kontaktminimierung. Doch es gibt auch haarsträubende
„Verstöße“. Letztlich glaube ich, dass sich die Gesellschaft in ihrem
kulturellen und wirtschaftlichen Habitus auf die nunmehr entstandene
Situation einstellen wird und – wo immer möglich – in den alten Trott
bislang betriebener Lebensführung zurückfallen wird. Es steht zu
befürchten, dass da und dort eine „Aufholjagd“ erfolgen wird, um die in
der augenblicklichen Krisensituation verloren geglaubten Freiheiten und
Gewohnheiten möglichst ungeschmälert wieder zu etablieren. Das ist
leider keine optimistische Sichtweise. Ebenso pessimistisch führt mich
die Annahme einer global einsetzenden Schuldzuweisung zwischen Ländern
und Kontinenten zu der Einschätzung, dass Reparationsansprüche erhoben
werden, die sich zu ernsthaften politischen Krisen entwickeln könnten.
Sollten derartige „Horror-Szenarien“ vermieden werden können, würde ich
in einem global angelegten Forschungsprogramm bezüglich der
Möglichkeiten zur Früherkennung, Eindämmung und damit letztlich
Beherrschbarkeit von Viren-Pandemien große Vorteile sehen, die aus
derzeit gemachten Erfahrungen mit Covid-19 resultieren. Es steht, denke
ich, außer Zweifel, dass bei rechtzeitiger Reaktion auf die weltweit
konkret erfolgten Warnungen von Virenforschen, die derzeitige
Problematik mit Corona-Viren um Potenzen geringer ausgefallen wäre.
Sollte sich definitiv zeigen, dass Vertuschung im Spiel war, könnte das
ebenso kritische Konsequenzen haben. Ich für mein Teil glaube nicht an
die Geschichte mit Wildmärkten, da diese Art der Vermarktung infolge von
Ess-Gewohnheiten bzw. Vorlieben seit Jahrhunderten und über die gesamte
dortige Weltregion verbreitet ist und damit die Folgen eines
Viren-Übersprungs längst evident geworden sein müssten. Nun, zunächst
bleibt es subjektive Mutmaßung. Und Vermutungen zu diesem Thema werden
uns noch einige Zeit begleiten, dennoch aber wird mit jedem weiteren Tag
Wissen und Erfahrung über die Pandemie gesammelt, was uns ein Leben mit
dem Virus möglich sein lässt.
Insidern in China und wohl auch den Geheimdiensten war bereits im Dezember 2019 klar, dass
sich eine neue SARS-Variante zu verbreiten begann. Dass aber ausgerechnet Trump den
Chinesen vorwirft, nicht rechtzeitig darauf reagiert zu haben, ist bloßes
Ablenkungsmanöver von seinem eigenen Versagen, da er die Pandemie ja selbst lange
verharmlost und für eine Wahlkampagne der Demokraten gehalten hat. Die anderen Populisten
haben es ihm gleichgetan, aber Fakten lassen sich nicht einfach ignorieren. Andere
asiatische Länder, wie Taiwan oder Vietnam, haben frühzeitig die Grenzen dicht gemacht und
profitieren nun davon.
Mir scheint „die Geschichte mit den Wildmärkten“, wie Du es umschreibst, plausibel, denn
genetische Untersuchungen zum Stammbaum des SARS-CoV-2 zeigen die Abhängigkeiten und
deuten zudem darauf hin, dass es keine künstlichen Eingriffe gegeben hat:
https://www.pnas.org/content/early/2020/04/07/2004999117
<https://www.pnas.org/content/early/2020/04/07/2004999117>
https://www.nature.com/articles/s41591-020-0820-9
<https://www.nature.com/articles/s41591-020-0820-9>
"The genomic features described here may explain in part the infectiousness and
transmissibility of SARS-CoV-2 in humans. Although the evidence shows that SARSCoV-2 is
not a purposefully manipulated virus, it is currently impossible to prove or disprove the
other theories of its origin described here. However, since we observed all notable
SARS-CoV-2 features, including the optimized RBD and polybasic cleavage site, in related
coronaviruses in nature, we do not believe that any type of laboratorybased scenario is
plausible.“
Es ist insgesamt unser aller Lebensweise, die im Zuge des Bevölkerungswachstums das
Artensterben, den Klimawandel und die Infektionskrankheiten befördert. Dabei waren unsere
Essgewohnheiten und Vorlieben von Anbeginn problematisch, blieben in ihren Konsequenzen
aber zumeist unverstanden oder lokal begrenzt. Und denk nur mal an das Schicksal der
nahezu ausgerotteten native Americans als Folge der Europäisierung. Was mich immer wieder
deprimiert, ist die geringe Lernfähigkeit der Menschheit, die spätestens seit der von
einer Geflügelfarm in den USA ausgegangenen Vogelgrippe vor 100 Jahren nicht in der Lage
war, das enge Zusammenleben mit und den Verzehr von Tieren auf ein verträgliches Maß
einzuschränken.
Kulturen, Traditionen, Gewohnheiten und Vorlieben sind änderbar und stets zu hinterfragen.
Nur weil das Jagen von Tieren wie das Essen ihres Fleisches einmal ein Überlebensvorteil
gewesen sein mag, muss man nicht ewig daran festhalten. Heute hat es sich zum
Überlebensnachteil gewandelt und wer das zu spät einsieht, den wird die Natur eines
besseren belehren. Die nächste Vogelgrippe und schlimmer noch der fortschreitende
Klimawandel werden es den nächsten Generationen zunehmend schwerer machen mit dem Erhalt
des bisher erreichten Wohlstands. Und auch die immer noch ungelöste Schuldenkrise ist
gerade wieder um mehrere Billionen verschärft worden. Wer soll das am Ende alles bezahlen?
Unsere Enkel werden uns zu Recht für unseren selbstherrlichen Lebenswandel hassen können.
Es grüßt,
Ingo