Eigentlich sind es ja nur ein paar Zeilen, mit denen Du, Ingo, Deinen
Unmut über Beiträge hier zum Ausdruck bringst; doch diese haben‘s in
sich und so müsste ich mir ausreichend Zeit nehmen, um darauf adäquat
antworten zu können. Doch diese Zeit kann ich augenblicklich nicht
aufbringen und möchte daher vornehmlich auf einen Punkt eingehen,
nämlich den der unvermeidlich unterschiedlichen Bildungswege von Menschen.
Irgendwann hatte ich hier geschrieben, dass ich während meiner
Schul-/Studienzeit zwar einiges gelernt aber längst nicht alles davon in
wirklicher Tiefe verstanden habe; deshalb ich heute noch bei der
„Nachlese“ bin, um manche mir damals unverständlich gebliebenen
Zusammenhänge zu erarbeiten .
Grundsätzlich möchte man doch meinen, „gelernt haben“ würde bedeuten,
etwas auch verstanden zu haben. Dennoch denke ich, gibt es da einen
erheblichen Unterschied.
Handwerklich etwa kann man den Umgang mit Werkzeug und entsprechendem
Werkmaterial (z.B. Hobel und Holz) lernen und eine bestimmte Routine
entwickeln. Natürlich wird ein Schreiner auch Kenntnisse über seinen
Werkstoff Holz und weiterer zu nutzende Materialien in seiner
Ausbildungszeit vermittelt bekommen. Dann kann er diese Kenntnisse
praktisch anwenden und damit das Gelernte (quasi implizit evaluierend)
zu einem grundlegenden Verständnis hinsichtlich der theoretischen und
handwerklichen Zusammenhänge entwickeln. „Er versteht sein Handwerk“
sagt der Volksmund und ich denke, das ist der Verbindung von gelernter
Theorie und mit Verstand ausgeführter Praxis zu danken.
In akademischen Ausbildungsgängen gibt‘s ja nun auch sehr viel zu
lernen, welcher Studierende würde das nicht bestätigen!? Nur hier kommt
es sehr auf die Fachrichtung an, ob Studierende die Möglichkeit haben,
Gelerntes z.B. im Labor oder im Praktikum konkret zu erproben und somit
Verständnis für die betrachtete Sache entwickeln können oder ob das
Gelernte nur als theoretisches Wissen verbleiben muss. Im
geisteswissenschaftlichen Bereich spricht man dann gerne von „brotloser
Kunst“.
Um noch weiter zu verdeutlichen, warum für mich ein großer Unterschied
zwischen lernen und verstehen besteht, nochmal (zu Deinem Leidwesen) die
wiederholte Schilderung einer Prüfungssituation, bei der es um
Schwingungsgleichungen (konjugiert komplexe DGLs) ging. Der Lösungsgang
solcher Gleichungen führt zu ellenlangen Integralen, die man nicht
zeitgerecht in einer Klausur auflösen kann. Soll man auch nicht, sondern
man sieht sich den Typ der DGL an, schlägt im Bronstein nach, was für
den jeweiligen Term einzusetzen ist und voila! Die Aufgabe ist gelöst.
Ich jedenfalls hatte mir damals eingebildet, die Integralscharen im
Zeitrahmen der Klausur auflösen zu können und bin daran gescheitert. Man
hat mir mein grundsätzliches Verständnis zum Gleichungssystem anerkannt
und die Klausur war trotz nicht vollendeter Lösung gerettet.
Ellenlange Story hierzu, doch jetzt kommts: Kommilitonen, die gar nicht
gross nachgedacht, sondern gleich substituiert haben, hatten auch sonst
meist recht gute Klausurnoten, im Kolloquium oder im Labor waren sie
schwach und dieser Typus Überflieger zeigt dann auch im Beruf wenig
Neigung und Fähigkeit für Aufgaben, die mehr als den Rückgriff auf
kurzfristig oberflächlich Gelerntes oder „Abgekupfertes“, also eben
grundlegendes Verständnis erfordern. Das denke ich sagen zu können, weil
ich Jahrzehnte in leitender Funktion Arbeitsbereiche nicht nur
funktionell, sondern vor allem auch in Bezug auf den jeweiligen Typus
dort arbeitender Menschen mit ihren unterschiedlichsten Anlagen
beobachtet habe.
Also gilt doch einmal mehr: die Art und Weise, wie Menschen sich Wissen
aneignen und sich daraus einen gewissen Bildungsstand erarbeiten, ist
notwendigerweise sehr unterschiedlich; Dabei ist es mit purer Ansammlung
von Wissen, eben ohne diesbezüglich tieferes Verständnis und damit ohne
hinreichende Inferenzbildung nicht getan.
Was will ich damit sagen? Ein Studium alleine ist keine Garantie für
einen umfassenden Bildungsgrad, es ist eher wie ein Werkzeug, das man in
die Hände bekommt, um damit auf ähnliche Art wie der Handwerker die Welt
weiter bauen zu können und nicht zuletzt auch die ureigene Welt. Auch
hier stellt sich Routine ein und es liegt am Einzelnen, ob diese
verwaltend oder gestaltend abläuft.
Deine Welt, denke ich, ist die von Dir beschriebene Welt der höheren
Bildungseinrichtungen und Forschungsstätten. DESY ist mir in guter
Erinnerung, weil es seinerzeit die einzigen waren, die mit den
komplizierten Gedankengebäuden eines Burkhardt Heim umgehen konnten. Du
erinnerst Dich, ich hatte hier darüber geschrieben.
Du bist also von einer soliden praktischen Ausbildung als Technischer
Zeichner (wenn ich‘s recht erinnere) in eine Welt der Theorien
gewechselt, hast diese nie verlassen und insoweit bist Du zum Inbegriff
eines Theoretikers resp. Analytikers geworden, der sich aber wohl auch
als Synthetiker versteht. Dieses gegenwärtig umso so mehr, als Du nun an
Deiner "Lebenssynthese" arbeitest.
Wenn ich‘s für mich sagen sollte, welchen Typ ich diesbezüglich
verkörpere, würde mir einfallen: Bunter Hund, von allem etwas und
(hoffentlich) von nichts zuviel. Dass ich Technik studiert habe, liegt
daran, schon als Kind/Jugendlicher mit Begeisterung an Radiogeräten
gebastelt zu haben, oder mir (wie Waldemar das hier mal für sich
erzählte) einen Pendelempfänger (Superregenerativempfänger oder
Pendelaudion) mit einfachsten Mitteln gebaut habe. Ein (nur) für Technik
begeistertes „Spielkalb“ also und das bis heute!
Homo Faber wollte ich aber auch nicht sein und glücklicherweise lebt
meine zweite Seele völlig technikfrei in ebenso völlig weltabgehobenen
Sphären (zum Leidwesen meiner Familie). Deshalb hatte ich mich noch
(nebenberuflich) für ein Phil/Sowi/Psych als geisteswissenschaftliches
Studium immatrikuliert. Auch das hatte ich hier schon geschrieben: Wäre
das mein Brotberuf geworden, wären meine Familie und ich verhungert!
Dennoch haben mich all diese Semester bereichert, doch auch hier gilt,
gelernt für Referate, Hausarbeiten und Klausuren, wirklich begriffen -
das glaubte ich damals vielleicht auch; doch heute weiß ich, dass es
längst nicht immer so war.
Bei diesem Kunterbunt kann man also weder von einem Analytiker noch von
einem Synthetiker sprechen, allenfalls in Anlehnung an letzteren, meine
ausgeprägte Manie erwähnen, aus einem angesammelten unendlichen Meer von
wissenschaftlichem Schriftgut und mittlerweile im Internet zuhauf
auffindbaren Quellen immer genau das (wieder)finden und präzisieren zu
wollen, was ich schon einmal verstanden zu haben glaubte. Das schrieb
ich so zuletzt hier hinsichtlich meines Vorhabens, etwas über den
Zeitbegriff zu schreiben. „Getriggert“ dazu wurde ich von Ratfrag und
Thomas mit diesem Goedel-Preis-Wettbewerb.
Der Zeitbegriff ist es also, der mich (solchermaßen hier inspiriert)
wieder einmal beschäftigt und nun habe ich (wie kürzlich erwähnt) die
Wahl: Entweder ich möchte mich nur selbst damit beschäftigen, behalte
also die „vielen unausgegorenen Ideen“ für mich, verweise allenfalls auf
diverse Quellen oder ich begebe mich auf „Glatteis“ in dieses Forum, um
diese Ideen zu diskutieren.
An David Finkelstein habe ich dabei nicht gedacht, eben bis Du auf ihn
hier hingewiesen hast (samt Quellenangabe seiner Schrift Palev
Statistics and the Chronon).
Die Idee von „gequantelter“ Zeit tauchte immer wieder in den
Wissenschaften auf, hat sich dort aber nicht gehalten; vermutlich wegen
der zu deutlichen Differenz zwischen dem für ein Chronon (als neu
einzuführende kleinste Einheit der Zeit) gegenüber der Planck-Zeit.
Beide Einheiten sind ohnehin nur theoretische Werte (wer hat schon eine
Empfindung für 10⁻⁽³⁴⁾ Sekunden?). Vielleicht war die Idee zur
Einführung eines Chronon auch zu „unausgegoren“ und Finkelstein hätte
sie besser für sich behalten müssen?
Mitnichten! denke ich, denn was heute an dieser Idee nicht verstanden
oder akzeptiert ist, kann morgen Gültigkeit bekommen oder abschließend
widerlegt werden; sehr wahrscheinlich sogar, wenn man auf dem Gebiet der
Quantengravitation weiter voran gekommen sein wird. Und auch hierzu hat
Finkelstein sicher wertvolle Beiträge geliefert, indem er sich
anschickte, eine „neue Ordnung der Zeitalter“ zu entwerfen.
Davon bin ich und vermutlich auch Waldemar, sowie selbst Du weit
entfernt, da wir eben keine „Boole, Gauss oder Finkelstein“ sind. Warum
sollten wir das auch sein!? Diese Menschen haben sich um die
Wissenschaft sehr verdient gemacht und haben ihr Vermächtnis
hinterlassen – geradewegs für uns, um auf deren Wissen aufbauend, mit
weiteren Ideen zu versuchen, die Welt verstehen zu lernen. Diese Ideen
werden immer ein Stück weit unausgegoren sein, ansonsten wir sie nicht
mehr entwickeln müssten: wir hätten dann den Schlüssel zur Weltformel
(GUT) bereits in Händen.
Die Frage bleibt also: Sollte man eigene Ideen (und seien sie noch so
unausgegoren) hier diskutieren können/dürfen oder muss man sie, um nicht
in Schwafelei zu verfallen, schlichtweg für sich behalten?
Welche Fragen blieben uns? Die typischen Allerweltsfragen etwa: Was ist
der Sinn des Lebens? Wo komme ich her, wo gehe ich hin? Gott bewahre!
Dann schon lieber Fragen und Themen, wie wir sie hier immer wieder
"durchkauen".
Nur müssen wir einen Modus finden, um nicht weiterhin längst bekannte
und damit abgedroschene Argumente, Annahmen und persönliche Weltsichten
immer auf‘s Neue vorzubringen.
Was bringt uns also den ersehnten Fortschritt (Thread!)?
Beispielhaft war es für mich dieser sehr willkommene Anstoß hier in
philweb, wieder einmal über Zeit nachzudenken und habe mir dazu die
Essays der Goedel-Preisträger und in Folge einiges mehr durchgelesen.
Nun kommen 16 Seiten der Finkelsteinschen Schrift hinzu. Doch all das
Gelesene führt nicht weiter, wäre vergeudete Zeit (sic!), wenn ich es
dabei belassen würde. Ich muss das Gelesene nicht nur lernend sondern
eben auch verstehend rezipieren.
Natürlich denke ich darüber nach, bemerke dabei, dass ich eigentlich
nicht sagen kann, was Zeit ist und mich eher mit Einsteins Feststellung
anfreunden möchte: Zeit ist das, was ich auf der Uhr ablese (sinngemäß).
Definitiv ist das auch (die üblich empfundene) Zeit, doch alleine schon
Raum mit Zeit (also Raumzeit) hat schon wieder eine ganz andere, kaum
wahrzunehmende Dimension. Und dann erst noch Finkelsteins Chronon!
Also würde ich gerne Gedanken, Ideen über "Zeit" resp. zum Zeitbegriff
hier im Forum mit anderen austauschen, selbst wenn sie unausgegoren sind
und eigentlich sein müssen – ansonsten wir Anwärter für einen Nobelpreis
wären.
Mal sehen, ob wir das Schiff hier wieder flott bekommen und wieder
Freude am Schippern aufkommt.
Bester Gruß an Dich und in die Runde! - Karl
Am 27.01.22 um 09:59 schrieb Ingo Tessmann:
Am 26.01.2022 um 19:05 schrieb Karl Janssen
<janssen.kja(a)online.de>de>:
Jeden erwischt es wohl einmal. Kannst Du Dich erinnern, Ingo, dass Du mir mal geraten
hast, Waldemars Beiträge hinsichtlich ihrer mir seinerzeit nicht mehr geheueren Art
einfach mal zu ignorieren!?
Also belasse in „Gottes Namen“ doch einfach ein paar Dich nervende Beiträge und bleibe
selbst kreativ; dabei solltest Du allerdings Gnade walten lassen mit all jenen hier unter
uns, die sich nicht zu den „analytischen Denkern“ zählen können. Ich denke, bin mir nicht
ganz sicher, ob auch mir wenig an Analytik gelegen ist; vermutlich nur soweit ich sie als
Ingenieur anwende; ansonsten will ich möglichst frei von analytisch angelegten Zwängen
sein.
Hi Karl,
ja, an meinen Rat erinnere ich mich gut, er liegt noch nicht lange zurück. Irgendwann
reicht es einfach. Das ist wie mit dem ständig durch den vielen Werbescheiß überquellenden
Briefkasten. Irgendwann werde ich den Einwerfern auflauern und — aber die können natürlich
nichts dafür, versuchen sich nur ein paar Euro zu verdienen. Das Ignorieren, Filtern oder
Vernichten von Mails ist zum Glück sehr viel einfacher als das von physischem Werbemüll.
Wir sind doch alle beides, Synthetiker und Analytiker, variieren nur die Schwerpunkte
unterschiedlich — und behalten vor allem die vielen unausgegorenen Ideen für uns. Ideen
kommen ja jedem Menschen ständig, aber nichts wird aus ihnen; denn wer macht sich dann
schon die Mühe, sie durchzudenken, weiter zu entwickeln und zu einem auch für andere
nachvollziehbaren Ergebnis zu führen? Die meisten Ideen funktionieren ja nicht und werden
durch Wiederholung nicht besser, sondern schlechter.
Der von mir kürzlich (und wohl nicht zum ersten Mal) erwähnte David Finkelstein gehörte
auch zu den Unorthodoxen und Abweichlern, zu denen sich Waldemar so gerne zählt. David
aber dachte viele seiner Ideen weiter, wie bspw. seinen "Space Time Code“ oder seine
Annahme von einem "Chronon" und weiteres, alles nachzulesen auf dem
e-print-Server oder in den Phys. Rev. Den "Space Time Code“ weiter gedacht hat er in
seinem Buch: "Quantum Reality. A Synthesis of the Ideas of Einstein and Heisenberg.“
Meinem Eindruck nach scheint Waldemar mit uns nachholen zu wollen, was wir im Studium
ausgiebig immer wieder mit Kommilitonen diskutiert hatten, sei es im Seminar, in der Mensa
oder in der Kneipe gewesen. Und während meiner Arbeit bei DESY, in der TUHH und im
Studentenwohnheim dann, hatte ich das Glück, mein Leben lang quasi weiter studieren zu
können — und schreibe nunmehr an meiner Lebenssynthese, die sicher nie fertig werden wird;
denn so viele Ideen und Erinnerungen gibt es noch zu bedenken.
IT