Am 09.11.19 um 20:46 schrieb Rat Frag via Philweb:
[Philweb]
Nehmen wir einmal das Beispiel "*Die Bibliothek von Babel*" von Borges.(1)
In so einer Bibliothek fehlen natürlich die klassischen Zahlen, aber man
kann ja bestimmte Buchstaben in einem Kontext als mathematischen Symbole
lesen. Das sollen meines Wissens die alten Griechen getan haben. Das würde
im Ergebnis bedeuten, dass jeder denkbare mathematische Beweis und jedes
philosophische Argument bereits in dieser Bibliothek enthalten wären.
Mein Problem ist aber, wie kann so eine universelle Bibliothek die
Unendlichkeit darstellen? Müsste es nicht auch Aussagen und Sätze geben,
die sich nicht in so einer Bibliothek finden? Klar, solche Aussagen wie "1
ist keine Primzahl", "2 ist keine Primzahl", "3 ist eine
Primzahl" usw.
sind nicht interessant.
Die Frage ist aber, sind diese Aussagen in unserer hypothetischen
Bibliothek vorhanden oder nicht? Nimmt man einen streng
formalistisch-wittgensteinischen Ansatz an, müsste man argumentieren, dass
nicht eine unendliche Liste von Aussagen existiert, sondern ein Gesetz,
dass diese Unendlichkeit abbildet.
Im Fall der Primzahlen zeigt sich hier aber ein Problem. Was ist, wenn gar
kein Gesetz existiert, das für jede Zahl angibt, ob es sich um eine
Primzahl handelt oder nicht? Dann müsste man einen einzelnen Test
durchführen und so eine unendlich lange Liste ist schon wieder sinnvoll.
Was denkt ihr darüber?
Rf: Ist Unendlichkeit endlich darstellbar?
Welch gelungenes Thema, insbesondere unter dem Aspekt gesehen, dass
darüber bereits unendlich viel nachgedacht, diskutiert und geschrieben
wurde!
Will man sich also, durch diesen schönen Denkanstoß ermuntert, (wieder
einmal) in diese Thematik stürzen, ergibt sich zunächst die Frage, was
man unter Unendlichkeit verstehen kann, bzw. welche diesbezügliche
Begriffsdefinitionen bereits existieren. Dabei stelle ich für mich fest,
wie einerseits „eingefahren“ meine Vorstellung von Endlichkeit und
Unendlichkeit, bezogen auf weit zurückliegende Lernphasen und anderseits
zerfahren diese im Kontext alltäglicher (immerhin durchaus als seriös zu
wertende) Medienbeeinflussung sind.
Auf‘s Neue die Begrifflichkeit dieser Thematik zu rekapitulieren, führt
glücklicherweise zu durchaus erweiterter Sicht darauf, beginnend mit
antiken Vorstellungen, etwa Zenons Paradoxon vom Wettrennen des Achilles
mit der Schildkröte. Nach heutigem (mathematischen) Verständnis der
Zusammenhänge verlieren bzw. verändern sie ihre Bedeutung, zeigen aber
nach wie vor deutlich die Fallen auf, in die menschliches Denken geraten
kann. Zenon hat (Verwirrung stiftend) nichts weiter als - gedanklich -
eine endliche Strecke unendlich oft geteilt. Mathematisch bilden die
Zeitintervalle eine unendliche Reihe, die konvergent ist und damit eine
endliche Summe besitzt: nach 11, 1 Sekunden erreicht Achilles die
Schildkröte. Ebenso abstrakt ist Aristoteles‘ Vorstellung von
Unendlichkeit, die sich aber dennoch, zumindest in Anlehnung an seiner
Begriffsdefinition von aktualer und potentieller Unendlichkeit, bis
heute etabliert hat und dabei immer noch für reichlich akademischen
Disput sorgt. Doch womöglich ist die von Menschen gedachte
„Unendlichkeit“ letztlich „nur“ Fiktion ist, ein von ihnen geschaffenes
„Denk-Konstrukt“, um damit gedanklich in eine letztlich immerwährende
„Existenz“ vorzudringen zu wollen. Lebenspraktisch ist dieses Konstrukt
(in ihren verschiedensten Ausformungen) absolut hilfreich und damit
sinnvoll: Zuvorderst in der Mathematik, von Archimedes angefangen bis in
die heutige Chaosforschung reichend.
Weit vor derartig philosophischen Überlegungen war es wohl für Menschen
essentiell bedeutsam, den Umgang mit Zahlensymbolik zu entwickeln (etwa
die mit Keilschrift eingemeißelten Strichmuster in Tonplatten zur
Zählung von Tauschgütern). Mit dem Zählen von Dingen wird man die
Möglichkeit zur Bildung einer Reihe natürlicher Zahlen erkannt und
darüber hinaus zu dieser Zahlenfolge ein Bildungsgesetz entwickelt
haben: a_n = 1 + 2(n − 1). Das war dann eine „Urform“ von
Symbol-Manipulation, die zum Erkennen unendlicher Mengen und deren
Gesetzmäßigkeit hingeführt hat.
Der Mensch als „animal symbolicum“, wie Cassirer es ausdrückt:
Sinnstiftung durch Schaffen und Verwenden von Symbolen; Symbolisierung
zur Vermittlung von Sinnlichem wie auch Geistigem.
Aristoteles‘ Unterscheidung zwischen dem „Potentiell Unendlichen“ und
dem „aktual Unendlichen“ bezieht sich auf das Grenzgebiet zwischen
Philosophie und Mathematik, beschränkt sich auf den Umgang mit
ausschließlich sinnlichen Dingen und Gegenständen; etwas Ganzes im
abgeschlossenen Sinne eines Unendlichen erkennt Aristoteles nicht an und
schreibt seiner Vorstellung von potentieller Unendlichkeit lediglich
logische Relevanz zu: Menschliches Denken, welches schlechthin auf Raum
Zeit begrenzt ist, könne nur in Teile des Kosmos und niemals in ein
angenommen unendlich Ganzes eindringen. Dem kann und muss man zustimmen,
was aber sicherlich nicht ausschließt, dass ein unendlich (oder eher
zutreffend), grenzenlos Ganzes (im abgeschlossenen Sinn) existiert.
Der zumeist religiös angenommene Bezug auf Unendlichkeit wird mit dem
Begriff Ewigkeit beschrieben; definiert als „infinitas“, einer
vollkommenen Wirklichkeit (Absolutheit) also, der, solchermaßen
unendlich optimiert, keine darüber hinausgehende Möglichkeit mehr
hinzukommen kann. Dieser tatsächlichen, aktualen Unendlichkeit steht
die Endlichkeit unseres Daseins gegenüber mit ihrer (sinnvollerweise)
per se bestehenden Beschränkung menschlichen Erkennungsvermögens, da
Allwissenheit jegliches irdische Menschsein unmöglich sein ließe.
Im Wissen um diese Beschränktheit halten Befürworter potentieller
Unendlichkeit (in Bezug auf Mathematik) daran fest, einer Zahlenmenge
zwar unendlich viele Elemente natürlicher Zahlen hinzufügen zu können,
die Gesamtheit einer allumfassenden (unendlichen) Menge jedoch nicht
erfassbar sei und damit lediglich potentiell existiert. Man lehnt es ab,
unendliche Mengen (z.B. die Menge aller natürlichen Zahlen N), als
eigenständig existierende mathematische Objekte anzuerkennen. Dieser
Ansicht steht m.E. kein logisches Argument entgegen, stellt aber doch
nur ein abstraktes weltanschauliches Denkmodell dar.
Ebenso abstrakte, wenngleich ungleich nützlichere Denk-Modelle für den
lebenspraktischen Umgang mit mathematischen Problemen (von Flächen-
Volumen-, Bahnberechnungen bis hin zu chaos-theorischen Modellen z.B.
der Meteorologie) haben sich spätestens mit den Arbeiten von Newton,
Leipniz (Infinitesimalrechnung), weiterhin Mathematiker wie Bolzano,
Weierstraß, Riemann, Dedekind und vor allem Georg Cantor entwickelt.
Letzterer ist in aller Munde, wenn es um Mengenlehre geht, die er gegen
massiven Widerstand aus der konservativen Wissenschaftswelt und
klerikalen Kreisen entworfen hat. Damit implementierte er das aktual
Unendliche auf Grundlage der von ihm eingeführten transfiniten (aktual
unendlicher) Zahlen in die Mathematik. Und kein Geringerer als Hilbert,
drückte seine Anerkennung für diese Leistung folgend aus: "Aus dem
Paradies, das Cantor uns geschaffen, soll uns niemand vertreiben
können." So wie es derzeit aussieht, kam es bis heute nicht zu einer
Vertreibung. Im Gegenteil: Ernst Zermelo und Abraham Fraenkel verfassten
ein schlüssiges, widerspruchsfreies Axiomsystem als Basis zu Cantors
Mengenlehre, wie sie mittlerweile in allen wesentlichen mathematischen
Anwendungen zum Tragen kommt.
Bezogen auf das angesprochene Primzahlproblem (Frage nach der
Gesetzmäßigkeit) kann man mit Euklid annehmen: „Es gibt unendlich viele
Primzahlen“ und dieses mit einer zunächst hypothetischen Herleitung
unter der Prämisse „es gibt endlich viele Primzahlen“, beweisen: gegeben
seien die Primzahlen: p 1 , p 2 , ... , p n aus denen dann eine Zahl z
gebildet wird: z = p 1 ∙ p 2 ∙ ... ∙ p n + 1.
Unter der gesicherten Grundannahme, dass jede natürliche Zahl N > 1 als
ein Primzahlprodukt dargestellt und deshalb jede natürliche Zahl N durch
zumindest eine Primzahl geteilt werden kann, gilt: Es gibt zwingend
eine Primzahl, die die Zahl z teilt; z jedoch ist durch keine der
Zahlen p ohne Rest (1) teilbar. Diesem Widerspruch zufolge muss die
getroffene Prämisse „es gibt endlich viele Primzahlen“ verworfen werden.
Demnach muss es unendlich viele (niemals aufzählbare) Primzahlen geben,
welche nach Aristoteles‘ Auffassung von potentieller Unendlichkeit nur
als Möglichkeit existieren; Man kann das so stehen lassen, doch es
bleibt ein Unbehagen. Und dagegen gibt es Abhilfe:
In derartigen, rationalem Denken unzugänglichen, Bereich von
„Unendlichkeit“ aus menschlicher Perspektive einzudringen, wo Raum und
Zeit ihre irdisch relevante Form verlieren, wo das Eine als das Ganze
gleichermaßen unendlich klein und unendlich groß sein kann, bedeutet
einen irrational-gedanklichen „Grenzübergang“ vornehmen zu müssen. Die
letztlich erfolgte Anerkennung von Cantors Mengenlehre ist der Lohn für
seinen Mut zu eben diesem Grenzübertritt, der im Ergebnis die gleiche
Erkenntnis erbracht hat, wie die (heute meist als Esoterik verschriene)
Annahme des Hermes Trismegistos: „Wie im Großen – so im Kleinen“. Das
verbindende Agens ist die Form, informationstechnisch heute als
„Information“ omnipräsent und doch meist nicht als in ihrer intrinsisch
umfassenden Bedeutung erkannt.
Solchermaßen für die Mathematik „rehabilitierte“ aktuale Unendlichkeit
entspricht der (praktischen) Vorstellung eines existierenden
Behältnisses bzw. eines Raumes, in dem sich unendlich viele (beliebige)
Elemente befinden. Die Menge dieser Elemente ist von vornherein
abgeschlossen und allumfassend. Gemäß Cantor‘scher Definition enthält
diese Menge neben Zahlen und Funktionen auch die Gesamtheit
mathematischer Sätze, Regeln und Definitionen. Zahlenmengen und
Rechengesetze entstehen nicht erst, sie sind von jeher (eben ewig!)
existent. Potentielle Unendlichkeit setzt also aktuale Unendlichkeit
voraus. Theologisch gesehen, ist das Eine, Ganze (eben das Göttliche)
der Ursprung, die Voraussetzung für unendliche mögliche Vielheit. So
bildet sich Unendlichkeit im Endlichen ab.
Bester Gruß in die Runde! - Karl
PS: Es lohnt sich allemal, vom oben erwähnten Denkanstoß beflügelt,
weiterhin über die Dinge zwischen Himmel und Erde nachzudenken. Und man
kann sicher sein, damit wahrhaftig nicht allein zu sein:
/Das Universum ist jedenfalls die Erscheinung des „Unendlichen im
Endlichen“. Dabei ist zu beachten, dass nie einzelne Teile des
Universums mit der Gottheit gleichgesetzt werden, sondern nur das
„Eine“, das alles umfasst. Die Einzeldinge gelten als verschiedene
Erscheinungen des Universums. Das „Eine“ ist als eine Art Prinzip hinter
den Dingen zu verstehen . (Schleiermacher)//
//
//„Wenn die Materie ins Unendliche teilbar ist, so enthält sie wirklich
eine unendliche Menge von Teilen, ein Unendliches, das real und aktual
existiert.“ (Pierre Bayle)//
/
Dann also doch:
/„Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist“
(Wittgenstein - Tractatus)/
/
/
//