liebe Runde,
ich hoffe, Ihr sehr es mir nach, wenn ich Euch nochmals mit zwei langen Texten heimsuche
(es bringt nicht einen Link zu versenden, die Süddeutsche kassiert ab), der erste von
Armin Nassehi nimmt in gewisser Weise die Problematik auf, die Claus nachfolgend
formuliert: "Aber es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, wie
verschärfte soziale Kontrolle in der Praxis aussehen und wer dabei gewinnen und verlieren
würde.“
Paech antwortet darauf im Prizip mit den bekannten Thesen, dass ein wie gehabt weiterso,
verbunden mit grünen Illusionen nicht funktionieren wird. Die Frage bleibt was dann und
ich denke, hier sind u.a. auch Philosophen gefragt, die aufs „Ganze“ gehen, das „Ganze“
denken können/müssen, denn wie Nassehi polemisch formuliert, geht es ja ums „Ganze“,
herzlich, Rainer
Süddeutsche Zeitung, 1 August 2019
Die denkfaule Gesellschaft
Fliegen und Heizen teurer machen? Das trifft vor allem die Schwächeren. Über die
soziale Kälte der Klimadebatte.
Gastbeitrag von Armin Nassehi
Die Selbstbeschreibung von Gesellschaften folgt starken Konjunkturen. Selbst-
beschreibungen sind immer selektiv, sie wählen zwischen Möglichkeiten aus. Die derzeit
prominenteste Selbstbeschreibung der Gesellschaft in ihrer veröffentlichten Form ist der
Klimawandel - eine katastrophische Form, die den unschätzbaren Vorteil hat, dass sie aufs
Ganze geht. Das Überleben der Mensch- heit ist das Thema. Das ist nicht nur
aufmerksamkeitsökonomisch bedeutsam, sondern kann gewissermaßen an der Unbedingtheit des
eigenen Anspruchs ansetzen: Es geht nicht um irgendein Problem, sondern um so etwas wie
das letzte Gefecht.
Es ist eine Figur, die aus Selbstbeschreibungskonjunkturen der Moderne bekannt ist. Sie
hat die linken und auch rechten Revolutionen des 19. und 20. Jahrhunderts mit
eschatologischen Energien ausgestattet. Und auch die großen Themen der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts waren dann erfolgreich, wenn sie die Bedingung der Möglichkeit des Ganzen
infrage stellen konnten - von der Gefahr des heißen Krieges und der atomaren Zerstörung
bis hin zu ökologischen Untergangsvisionen, die bereits in den Siebzigerjahren damit
gerechnet haben, dass die Jahrtausendwende nicht mehr erlebt werden könne.
In der griechischen Tragödie ist das Katastrophische der Punkt, an dem die menschliche
Hybris ihrer Vergeblichkeit ansichtig wird. Sophokles' Ödipus blen- det sich selbst,
als er seines Scheiterns gewahr wird. Das Katastrophische führt unweigerlich in die
Katastrophe. Sollten wir schon geblendet sein, so tun wir zumindest noch immer so, als
würden wir sehen. Vielleicht wird die Tragödie zur Farce.
Sie wird zumindest dort zur Farce, wo wir anders als die Helden der Tragödie nicht mit der
Welt rechnen, in der sich die Dinge wenden (sollen). Die Unbe- dingtheit der Diagnose über
den Klimawandel ist so groß, dass die Blicke sich den realen, den weltlichen, den
empirischen Bedingungen der Gefahr gar nicht stellen. Eine recht komfortabel lebende
Generation klagt die Gesellschaft an, dass sie alles anders machen muss. Sie rechnet nicht
mit der Hybris ihrer Forderungen.
Die Ziele der Klimadebatte sind klar formuliert: CO₂-Neutralität und Tempera-
turbegrenzung lassen sich gut benennen, aber man rechnet nicht mit einer Gesellschaft, die
schon da ist, und nur mit ihren eigenen Mitteln reagieren kann. Die Hybris ist so groß,
dass darüber vergessen wird, dass die Ansprache eines "Wir" und der Forderung,
dass alles anders werden muss, nicht als das erscheint, was sie ist: eine Selbstberuhigung
in Gestalt katastrophischer Prophezeiungen.
Wer über Pendler spottet, hat möglicherweise einen Beruf, der sich auch vom heimischen
Schreibtisch ausüben lässt.
Die Dinge müssen kleingearbeitet werden - und dann stößt man auf die Wider- ständigkeit
einer Gesellschaft, die nichts anderes hat als ihre eigenen Routinen und Konflikte. Ein
solcher Konflikt besteht darin, dass die Klimafrage sich von der sozialen Frage nachgerade
abkoppelt. Alle Diskussionen um die Bepreisung von CO₂-Ausstoß, der Verteuerung von
schädlichem Verhalten und der Bestrafung von unangemessenem Verhalten haben eben nicht nur
eine sachliche Dimension, sondern auch eine soziale.
Wer es sich leisten kann, wird durch Bepreisung nicht wirklich getroffen. Wer das Fliegen
teurer macht, trifft vor allem diejenigen, die es sich weniger leisten können. Wer den
Energieverbrauch besteuert, wird eher die Haushalte treffen, die einen höheren Anteil ihres
Einkommens für das Heizen ausgeben müssen. Und wer über die Pendler spottet, hat womöglich
einen Beruf, der sich auch am heimischen Schreibtisch erledigen lässt. Höhere Preise
treffen immer die weniger Wettbewerbsfähigen.
Nein, es geht nicht darum, die soziale Frage gegen die Klimafrage auszuspielen. Aber wer
wie etwa der Wirtschaftswissenschaftler Niko Paech ernsthaft behaup- tet, wir müssten und
könnten aus dem industriegesellschaftlichen System aus- brechen und die gesellschaftliche
Energie herunterfahren, kann das letztlich nur aus der Position eines Milieus, dessen
Subsistenz energiearm organisiert ist, weil Wertschöpfung hier anders funktioniert.
Die Ersten, die ein solches Herunterfahren der Standards spüren werden, sind diejenigen,
deren ökonomische Subsistenz von dieser Struktur abhängig ist. Hier ist die Klimafrage
selbst eine soziale Frage - und man sollte nicht so tun, als könne man jenen Umbau, von
dem dieses Milieu gerne geradezu sozialtechnolo- gisch spricht, schlicht instrumentell
herstellen.
Die Kunst besteht darin, Lösungen mit den Mitteln eben jener Gesellschaft zu finden, die da
ist.
Dass das instrumentell schwer herzustellen ist, spüren auch diejenigen, die das fordern -
und stellen deshalb gerne auf lebensweltliche Kontrolltechniken um: von moralischer
Nachbarschaftskontrolle bis hin zur geradezu autoritären Defi- nitionsmacht darüber, wie
ein sinnvolles und angemessenes Leben aussieht.
Hier bricht sich die ganze Verachtung gegenüber anderen Lebensentwürfen und Lebensformen,
anderen Milieus und nicht zuletzt den ökonomischen Zugzwängen einer Gesellschaft Bahn, wie
wir sie auch aus anderen Politikfeldern kennen. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu
nannte diese Hybris eine scholastische Vernunft, die nur die Verabsolutierung der eigenen
moralnahen Praxis gelten lassen will.
Die unrealistischste Perspektive auf das Klimaproblem ist gerade die katastrophische
Ausblendung der Einsicht, dass all das in einer Gesellschaft stattfindet, die so ist, wie
sie ist. Die Kunst besteht darin, Lösungen mit den Mitteln dieser Gesellschaft zu finden.
Das gilt vor allem für die soziale Frage, die eben auf sehr ungleiche Folgen maßloser
Interventionen verweist.
Das gilt aber auch dafür, dass man sich die Gesellschaft nicht einfach als einen Apparat
vorstellen kann, in dem man Aktivitäten herunterfahren kann - übrigens Fantasien, die
allen Erkenntnissen der Thermodynamik widersprechen. Einmal erreichte Differenzierungen
lassen sich nicht einfach herunterfahren, ohne selbst eine erhebliche Dynamik zu
entfachen, die übrigens alles andere als klimaneutral wäre.
Mit der Gesellschaft zu rechnen, wie sie ist, heißt nicht, alles so zu belassen, wie es
ist. Es heißt, die gesellschaftsinternen Risiken und Gefahren zu betrachten, wenn man den
großen Umbau plant. Es gibt nicht nur externe Limitationen natürlicher Ressourcen oder der
Belastbarkeit des Planeten mit Verbrennungs- rückständen oder Müll, es gibt auch innere
Begrenzungen, wie eine Gesellschaft mit internen und externen Gefährdungen umgehen kann.
Angesichts des materiellen Klimawandels ist es keine Petitesse, wie sich Maß- nahmen auf
demokratische Willensbildungsprozesse oder ökonomische Potenz auswirken. Beides ist
übrigens für die soziale Frage von ganz entscheidender Bedeutung. Verkehrs-, energie-,
industrie-, arbeitsmarkt-, finanz- und gesell- schaftspolitische Lösungsversuche müssen
sich vor einem wählenden Publikum bewähren können.
Einzelfälle? Kleine Schritte? Wie langweilig. Viel schöner ist das Bewusstsein, auf der
richtigen Seite zu stehen.
Doch die Verachtung der Demokratie gegenüber wird oft noch von der Verach- tung des
Ökonomischen übertroffen. Ökonomische Lösungen müssen markt- gängig werden können, weil sie
schlicht die Grundlage für Wohlstand und befriedete Verhältnisse sind. Auch das gehört zum
Stoffwechsel der Gesellschaft, ebenso wie rechtliche Standards von Freizügigkeit und die
wissenschaftlichen Standards, Wahrheitsfragen nicht nach öffentlichkeitswirksamer Zustim-
mungsfähigkeit zu entscheiden. Die moderne Gesellschaft ist nicht aus einem Guss - das ist
die Grundlage ihrer Pathologien, aber auch die Grundlage ihrer Leistungsfähigkeit und
Problemlösungskapazität. Wer daran vorbeisieht, dem bleibt nur die katastrophische
Perspektive aufs Ganze - und dem wird der gescheiterte Held lieber sein als derjenige, der
die Dinge in kleinen Schritten angeht und sich am Fallibilismus immerwährender Versuche
orientiert. Wie leicht die Diskussion über die soziale Frage, aber auch über die
evolutionären Standards der gesellschaftlichen Moderne hinweggeht, zeugt von einer Denk-
faulheit, die sich damit zufriedengibt, auf der richtigen Seite zu stehen. Das
Kleinarbeiten der Probleme ist aber viel voraussetzungsreicher.
Im politischen Raum lassen sich diese Versuche des Kleinarbeitens registrieren, wenn die
Grünen auf Wirtschaftsverbände zugehen und signalisieren, dass Lösungen für Klimaprobleme
nicht gegen oder ohne wirtschaftliche Akteure denkbar ist, oder wenn der bayerische
Ministerpräsident Söder die Klimapolitik als eine genuin eigene Aufgabe entdeckt, gerade
weil sie so unbedingt daherkommt.
Vielleicht entfaltet die geradezu von Lutherscher Rigorosität geprägte Greta Thunberg auch
deshalb eine solche ikonografische Kraft, weil diese Unbedingt- heit nur die große
Erlösungsperspektive freigibt, kaum aber die konkreten Schritte, die gegangen werden
müssen. Letztens immerhin hat sie einen Satz gesagt, der die Dinge durchaus auf den Begriff
bringt: Sie verlange nicht, dass man den jungen Aktivisten zuhört, sondern dass man
wissenschaftliche Erkenntnisse ernst nimmt.
Da ist etwas dran. Dazu gehören sowohl die naturwissenschaftlichen Erkennt- nisse über den
Klimawandel, die oft differenzierter sind, als es auf den ersten Blick erscheint. Dazu
gehören technikwissenschaftliche Lösungsversuche, die in den unterschiedlichen Bereichen
sprießen und tatsächlich eine große Energie freisetzen, die Folgen vorheriger
Energiefreisetzung zu mindern. Dazu gehören aber auch sozial- und
gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnisse darüber, dass die Gesellschaft kein Objekt
ist, das man instrumentell verändern kann, sondern das nach einer eigenen Logik
funktioniert, die man mit ihren eigenen Waffen schlagen muss: politisch, ökonomisch,
wissenschaftlich und im Hinblick auf die Bedingungen von Verhaltensänderung, die seit
Mitte des 19. Jahrhunderts als soziale Frage diskutiert werden. Hier stehen wir erst am
Anfang - und weil es an dieser Stelle vielleicht den geringsten Sachverstand gibt, genießt
die räsonierende Klasse so sehr das Katastrophische. Dies aber, das sollte man von der
klassischen Tragödie lernen, macht sich am Ende vom Urteil der Götter abhängig. Und die
Götter haben bekanntlich keine Subsistenzprobleme.
Der Autor ist Soziologe an der Ludwig- Maximilians-Universität in München und Herausgeber
der Vierteljahreszeitschrift Kursbuch . Am 28. August erscheint von ihm das Buch
"Muster - Theorie der digitalen Gesellschaft“.
Süddeutsche Zeitung, 19. August 2019
Verheerende Lebenslüge
Grüner leben, ohne verzichten zu müssen? Umweltökonom Niko Paech über die trügerische Idee
von Nachhaltigkeit, bei der sich der Einzelne nicht einschränken muss.
Von Niko Paech
Nie waren die Bewohner der industrialisierten Hemisphäre freier, reicher, gebil- deter,
verfügten nie über mehr technische Kompetenz und Innovationspoten- ziale - und lebten
zugleich nie verantwortungsloser über ihre Verhältnisse.
Dieses epochale Schauspiel, das dem Drehbuch einer fortschrittstrunkenen
Steigerungsdynamik folgt, bewegt sich rasant auf ein desaströses Finale zu, es sei denn,
unerwartete Störungen im Betriebsablauf verhindern dies noch. Denn innerhalb ihrer eigenen
Systemlogiken lassen sich moderne Gesellschaften ebenso wenig davon abhalten, an der
ökologischen Krise zu scheitern, wie sich Feuer mit Benzin löschen lässt.
Gleichwohl erfreut sich der Glaube an die technische und politische Machbarkeit des
ökologisch Unmöglichen unbeirrter Verteidigungsreden. Eine solche lieferte an dieser
Stelle jüngst der Soziologe Armin Nassehi (SZ vom 2. August). Er kehrt die Kritik an der
Hybris einer zerstörerischen Industriegesellschaft einfach um, indem die Forderungen nach
dem Minimum dessen, was das Überleben der Zivilisation noch ermöglichen könnte, als pure
Hybris zurückzuweisen sei. Kli- maschutzaktivisten wie auch Wachstumskritiker sähen vor
lauter Katastro- phenangst nicht die "Gesellschaft, die schon da ist, und nur mit
ihren eigenen Mitteln reagieren kann".
Dieser Strukturkonservatismus aber dominiert seit Jahrzehnten den politischen und
wissenschaftlichen Nachhaltigkeitsdiskurs, wobei er dessen Problemlö- sungsgehalt ruiniert
hat. Die Idee, dass eine Gesellschaft, deren auf Wachstum und Technisierung gründende
Entwicklungslogik auf einen Kollaps zurast, nun ausgerechnet mit denselben, also
"eigenen Mitteln reagieren" solle, findet seine Vollendung im sogenannten
"grünen Wachstum", auf das sich prinzipiell alle Fraktionen des Bundestags (mit
bekanntlich einer Ausnahme) längst geeinigt haben. Demnach soll der materielle Wohlstand
geschützt werden, indem seine ökologisch unschönen Nebenfolgen durch erneuerbare Energien,
geschlossene Stoffkreisläufe und Effizienzmaßnahmen vermieden werden. Das sodann von
Umweltverbräuchen entkoppelte Komfortparadies soll unbeirrt weiterwachsen können, um
Freiheitseinschränkungen und soziale Konflikte zu vermeiden.
Schafft Obergrenzen für den von einem Individuum beanspruchten materiellen Wohlstand!
Aber abgesehen davon, dass dieser grüne Fortschrittszauber schon immer theo- retisch
unhaltbar war, weil er gegen die Gesetze der Physik anrennt, hat er sich empirisch zu
einem solchen Desaster ausgewachsen, dass die wissenschaftliche
Aufarbeitung seines Fehlschlagens Bibliotheken füllt und neue Forschungsfel- der entstehen
ließ. Wenn der Planet erstens physisch begrenzt ist, zweitens industrieller Wohlstand
nicht von ökologischen Schäden entkoppelt werden kann, drittens die irdischen
Lebensgrundlagen dauerhaft erhalten bleiben sol- len und viertens globale Gerechtigkeit
herrschen soll, muss eine Obergrenze für den von einem einzelnen Individuum beanspruchten
materiellen
Wohlstand existieren.
Wer diese Einsicht vorträgt, sieht sich den Beißreflexen zweier Lager ausgesetzt, die
ansonsten wenig eint. Die AfD-nahen Leugner des menschengemachten Kli- mawandels
unterstellen den Wachstumskritikern, ein erfundenes Umweltpro- blem vorzuschieben, um eine
als Klimapolitik getarnte Umverteilung zulasten sozial Schwacher zu legitimieren. Das
zweite, sich zumeist links-, neo- oder grün-liberal gerierende Bollwerk möchte sich
demgegenüber als intellektuell überlegen wahrgenommen wissen, räumt deshalb ein, dass der
Klimawandel einer industriell entgrenzten Lebensweise geschuldet ist, wehrt sich ansonsten
aber ebenso vehement gegen wachstumskritische Störenfriede. Freilich gelingt dies nicht
ohne kausale Verrenkungen, von denen die genannte grüne und sys- temkonforme
Fortschrittsfrömmigkeit noch die harmloseste ist.
Wer Freiheit bewahren will, darf sie nicht überstrapazieren
Nassehi bringt nun das abgegriffene Totschlagargument der "sozialen Kälte" gegen
Nachhaltigkeitsforderungen in Stellung. Dieses beruht auf der Unterstel- lung, dass
Klimaschutzaktivisten zu den Vermögenden zählen, die den unteren Einkommensklassen
Entbehrung aufoktroyieren wollten. Dabei ist die soziale Frage des 21. Jahrhunderts
zugleich die ökologische: Wer darf sich mit welchem Recht wie viel an materiellen
Freiheiten aneignen, ohne über seine ökologischen Verhältnisse zu leben?
Niemand wird sich mehr für eine Demokratie einsetzen, die nicht einmal das Überleben
sichern kann.
Nicht zu hintergehen ist damit die regulative Idee, dass erstens jedem Menschen dasselbe
Quantum an Ressourcen zusteht, und zweitens kein Recht auf ökologi- sche Zerstörung
bestehen kann. Dies ließe sich praktisch und politisch gar nicht anders umsetzen, als
zwischen Grundbedürfnissen und dekadentem Luxus, der interessanterweise ständig neue
Rekorde erzielt, zu unterscheiden. Demnach wären Flugreisen, Kreuzfahrten, übermäßiger
Fleischkonsum, überbordender Elektronik- und Textilkonsum, überdimensionierter Wohnraum
der effizien- teste und zugleich sozialpolitisch begründbarste Ansatzpunkt.
Auch Nassehis Vorwurf der "Demokratieverachtung" greift nicht. Wer weiter an der
tragisch gescheiterten "Kunst" festhält, "Lösungen mit den Mitteln dieser
Gesellschaft" zu kreieren, reproduziert nicht nur die Krise, sondern pulverisiert
individuelle Verantwortung, legitimiert nämlich das "Weiter so" ökologisch rui-
nöser Praktiken, zumal diese nichts anderes sind als die Insignien der "Gesell-
schaft, die da ist".
Wenn aber Verteilungskonflikte um den Rest an materiellen Möglichkeiten ent- brennen und
für manche der Kampf um ein würdiges Dasein beginnt, wird sich niemand mehr für eine
Demokratie einsetzen, die offenkundig am Minimum dessen gescheitert ist, was von einem
politischen System zu erwarten ist, das sich human nennt: schlichte Überlebensfähigkeit.
Wer also die Freiheit bewah- ren will, darf sie nicht überstrapazieren, sondern muss sie
vorsorglich und freiwillig begrenzen.
Maximaler sozialer Rechtfertigungsdruck hilft, öko-suizidale Handlungen zu verhindern.
Hierzu bedarf es eines sozialen Regulativs, das darin besteht, im Sinne einer
Selbstermächtigung erstens die Missbilligung öko-suizidaler Handlungen und Prozesse
angemessen zum Ausdruck zu bringen, zweitens für diese maximalen sozialen
Rechtfertigungsdruck aufzubauen und drittens die dabei angelegten ökologischen Maßstäbe
durch eine entsprechende Lebensführung praktisch auf sich selbst anzuwenden. So gesehen
sind die "Friday for Future" (wenn deren Protagonisten an der dritten Bedingung
noch etwas arbeiten) der
beste Demokratieschutz.
Wer dagegen basierend auf systemkompatiblen, aber wirkungslosen Konzepten das Blaue - oder
besser: das Grüne - vom Himmel verspricht, biedert sich zwar kurzfristig einem
verschreckten Publikum an, bedient aber langfristig eine der verheerendsten Lebenslügen,
nämlich dass Nachhaltigkeit ohne Begrenzung des materiellen Wohlstands möglich ist. Solche
Lebenslügen aufzudecken, dürfte wohl kaum von denen zu erwarten sein, die daran verdienen,
ganz gleich ob Wählerstimmen oder Profite, sondern zählt zu den dringendsten Aufgaben der
Wissenschaft. Das sollte auch für die Soziologie gelten.
Niko Paech lehrt an der Universität Siegen Plurale Ökonomik.
Am 22.08.2019 um 09:04 schrieb Landkammer, Joachim via
Philweb <philweb(a)lists.philo.at>at>:
[Philweb]
Lieber Claus,
ich versuche, auf einiges zu reagieren:
- "Ich kann nichts dafür" ist wohl einer der gleichzeitig unglücklichsten und
falschesten Sätze überhaupt. Jeder kann immer etwas "dafür". Das ist eben das
(eben vielleicht nicht nur theologisch sinnvolle) Theorem der "Urschuld", der
grundsätzlichen Verdorbenheit der menschlich-körperlichen Existenz. Nicht daß niemand uns
gefragt hat, als wir in die Welt "geworfen" wurden (wie die Existentialisten
immer jammern), sondern daß die WELT niemand gefragt hat, ist das Skandalon: wir werden
eigentlich nicht gebraucht, wir sind nicht nur überflüssig, sondern: wir stören. Unser
reines Dasein ist per se schuldbeladen. (Es gibt in Simmels Soziologie die These, daß
Gesellschaft nur möglich ist, weil sie mit der fundamentalen Voraussetzung operiert, daß
für jedwedes Individuum in ihr ein "Platz" ist; das gilt eben für die
menschengemachte - und historisch: westlich-demokratische - Institution namens
Gesellschaft, für die "Natur" oder für "die Welt" gilt das nicht). Es
geht also um ein prinzipielles "schlechtes Gewissen", das gar nicht aus einer
versäumten und je wieder gutzumachenden (Nicht-)Handlung stammt. Die ganzen
philosophischen und literarischen Strömungen des Pessimismus und Nihilismus (ich lese z.B.
zur Zeit gerade Giacomo Leopardi) haben diese urkatholische Grundintuition eigentlich
übernommen - und verschärft, indem sie den tröstenden Heilsgott daraus gestrichen haben.
- Ich weiß, daß (auch) das eine hochproblematische Vorstellung ist, weil sie natürlich
auch zur Legitimation von Gewalt und Immoral und Quietismus herhalten kann. Gerade darum
ist eben diese Ablaß-Idee wichtig: man kann, in kleinem, nichts Wesentliches verändernden
Rahmen, doch etwas "tun", und auf gewisse, temporäre und beschränkte Weise
"Sühne" leisten. Man kann sich von seiner Grundschuld stückchenweise und in
geringem Ausmaß "freikaufen" - und das muß ja nicht nur in monetärer Form sein,
sondern etwa auch durch die eine "gute Tat" pro Tag
("Werkgerechtigkeit" nannte Luther das abschätzig, weil er es in seinem Eifer
nicht begriffen hatte). Aber das Wichtige und spezifisch "Katholische" daran ist
eben: es gibt Minderung, Milderung, "Nachlaß", schon in dieser Welt, und nicht
erst im Jenseits (diese ganze Heils-Verlagerung ins Jenseits, die man dem Christentum
immer so stereotyp vorwirft, stimmt gerade für den Katholizismus NICHT! Daher ja auch die
(ebenfalls temporäre) katholische (Aus-)Gelassenheit, Lockerheit, Feierkultur: siehe
"Karneval", usw.).
- Unabhängig von der theologischen Stimmigkeit: die möglichen Parallelen und
"Anwendungen" auf das ökologische Tun und Lassen liegen meiner Meinung nach auf
der Hand. Ich plädiere daher für eine "katholische Ökologie"...
So ungefähr denke ich das gerade.
Ciao
Joachim
-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: Claus Zimmermann <mail(a)clauszimmermann.de>
Gesendet: Donnerstag, 22. August 2019 02:21
An: philweb(a)lists.philo.at; Landkammer, Joachim <joachim.landkammer(a)zu.de>
Betreff: Re: [Philweb] Die Lust am Schweigen
Schön, daß du wieder dabei bist. Aber: ich verstehe nicht, warum du jemandem, der deiner
Meinung nach nichts dafür kann, ein schlechtes Gewissen machen willst. Das wäre doch eine
Grausamkeit, die zu nichts führen würde, denn eine Änderung des Verhaltens wäre nicht
möglich. Ich vermute also, daß du sie vielleicht zwar für unter Umständen sehr schwierig,
aber nicht unmöglich hältst und deshalb nicht gleich nicht die Guillotine wenn auch in
abgemilderter Form durch soziale Kontrolle, sondern eine Rechnung für die verursachten
Kosten angemessen findest.
Nicht vorwerfbar wäre das Verhalten z.B. bei geistigen Störungen, unverschuldeten
Rauschzuständen durch K.O.-Tropfen oder ähnlichem. Auch im Fall von grossem äußerem Druck
würden wir dem Menschen zwar keinen Orden dafür verleihen, wenn er ihm nachgibt, aber ihn
auch nicht dafür bestrafen. Du weist auf das hin, was uns historisch, kulturell und als
Gattungswesen in den Knochen steckt. Dazu kommen die Umstände des Einzelfalls. Es ist
sicher sehr schwer, das zu überspringen. So finde ich es angemessen, nicht gleich
"Kopf ab" zu rufen, wenn das nicht geschafft wird, aber die Kosten, nicht als
Schikane, sondern so, wie sie anfallen, in Rechnung zu stellen. Auch das schlechte
Gewissen wäre dann nicht sinnlos und selbstzerstörerisch.
Das steht alles unter der Prämisse, daß es wirklich so kritisch ist, wie die Mehrheit der
Experten sagt und was ja auch mit Alltagserfahrungen übereinstimmt. Interessengeleitete
Stimmen gibt es vermutlich auf allen Seiten. Eigentlich müsste man dann versuchen, der
Sache selbst auf den Grund zu gehen. Aber ich fürchte, das übersteigt meine
Möglichkeiten.
Übrigens sagt Niko Paech nicht, daß verzichten immer nur die anderen sollen, sondern daß
man von anderen nicht mehr verlangen soll als von sich selbst. Aber es gehört nicht viel
Phantasie dazu, sich vorzustellen, wie verschärfte soziale Kontrolle in der Praxis
aussehen und wer dabei gewinnen und verlieren würde.
Claus
Am 21. Aug. 2019, 12:09, um 12:09, "Landkammer, Joachim via Philweb"
<philweb(a)lists.philo.at> schrieb:
[Philweb]
Naja, "genial gelebt" bringt es wieder in die falsche Richtung...
Auch wenn man natürlich mit dem Wort vorsichtig umgehen muß: aber ich
würde schlicht von "Tragik" sprechen (so etwa wie Georg Simmel von der
"Tragödie der Kultur" gesprochen hat). Unser westlich-aufgeklärtes, auf
den bekannten Werten des rationalen selbstbestimmten Individuums
beruhendes Leben gerät in den Konflikt mit einer Natur und einer
(Um-)Welt, die eben eher genügsame, ihren biologischen Instinkten und
Selbstdezimierungsprozessen (Viren, Gendefekte und sonstige
überlebenshinderliche Schwächlichkeiten) unterliegende Spezies
toleriert, als eine solche die kraft ratio und Technik sich von (fast)
allen natürlichen "Feinden" und Feindschaften (denn das ist die andere
Naivität der kleingeistigeren unter den Öko-Aposteln: die Natur steht
uns natürlich viel eher feindlich als freundlich gegenüber: ich sage
nur Zecken, Heuschrecken und Disteln!) unbesiegbar und damit sich "die
Erde untertan macht", und zwar in einem megalomanen Ausmaß, den das
etwas unvorsichtige Bibelwort wahrscheinlich nie ahnen konnte.
Aber angesichts der komplexen historischen, geistesgeschichtlichen,
ethischen und nicht zuletzt anthropologischen Voraussetzungen und
Verstrickungen, die zu diesem tragischen Konflikt geführt haben und
führen mußten, nun zu meinen, es genügten einfache "Umkehr"-Predigten
und Verzichts-Appelle (die ja sowieso letztlich meist neidgesteuert
sind, weil "verzichten" sollen ja bloß immer die anderen), scheint mir,
wie gesagt, naiv, fragwürdig, falsch... Solche Praxen wie das, wofür
symbolisch die katholische Ablaßidee steht, leisten hingegen zumindest
eines: sie belasten unseren unweigerlich schuldhaften Lebenswandel mit
einer unaufhebbaren Hypothek der Insuffizienz (DAS wäre nämlich mein
Schlagwort gegen Paechs neo-rousseauistische "Suffizienz"-Idee!), des
Ewig-Ungenügenden, ohne aber diesen Lebenswandel gänzlich unmöglich zu
machen: man "darf" trotzdem weiterleben, in selbst-bestimmter,
selbst-verantworteter Schuld, Demut und Fallibilität - anstatt auf
andere zu deuten, denen man Vorschriften zum einzig wahren und "reinen"
Lebensführung macht, um selbst nichts tun zu müssen.
So ungefähr hatte ich mir das gedacht mit diesem "laizistischen
Neo-Katholizismus"... aber sicher bin ich mir selbst natürlich auch
nicht ganz...
Joachim Landkammer
-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: Philweb <philweb-bounces(a)lists.philo.at> Im Auftrag von Karl
Janssen via Philweb
Gesendet: Mittwoch, 21. August 2019 09:41
An: Philweb(a)lists.philo.at; K. Janssen <janssen.kja(a)online.de>
Betreff: Re: [Philweb] Die Lust am Schweigen
[Philweb]
transmitted from iPad-Client
Am 21.08.2019 um 01:40 schrieb K. Janssen via
Philweb
<philweb(a)lists.philo.at>at>:
[Philweb]
Am 20.08.2019 um 23:27 schrieb Landkammer,
Joachim via Philweb:
[Philweb]
(Ich probier auch nur mal kurz meinen account wieder aus...)
nix da mit "nur kurz ausprobieren" :)) Wir sind froh, endlich wieder
von
Dir zu hören! Und das bei diesem Beitrag, den es erst einmal genau
zu lesen und zu überdenken gilt.
Grüß Dich bestens! - Karl
> Nico Paechs grundsätzliche Endzeit-Ausführungen würde ich evtl.
versuchen, mit
einer Rehabilitation des von ihm als Gegenmodell
genannten, vielgeschmähten Ablaßhandels zu unterlaufen. Denn genau das
war ja der eigentliche, tiefere Sinn des Tauschs Geld gegen
Sündenerlaß: ein kleiner, überschau-, aber kontrollierbarer Zeitgewinn
angesichts einer eschatologischen (das Lebens- und Weltzeitende
implizierenden), aber dann doch nie so ganz gewissen
Untergangs-Bedrohung. Die psychologisch schlicht unpräzise und
unterkomplexe Unterstellung dabei ist doch, daß, wer er sich von seinen
Sünden "freikauft", deswegen danach einfach kreuzfidel munter weiter
sündigt, daß man also nur Scheinverzicht treibt und lediglich
kosmetische Oberflächen-Selbstkorrekturen vornimmt. Nein, die realen
(auch psychischen) Kosten des "Ablaßgeschäfts" erinnern mich permanent
an meinen ja immer nur provisorisch und temporär abgemilderten Status
der (Erb!-)Sünde und zeigen mir an, daß ich grundsätzlich (weiter) und
immer "falsch" lebe. Das als "Doppelmoral" zu bezeichnen (wie NP das
tut), ist selbst eine hoch moralistische Wehklage (auch sie mindestens
so alt wie der lutherische Antikatholizismus), die verkennt, daß
Menschen eben grundsätzlich diese Dilemmata nicht nur leben, sondern
"sind". Wir SIND ökologisch eigentlich untragbar.
Unter diesem (höchst subtil ausgelegtem) Blickwinkel gesehen, würde N.
Peach vermutlich auch nicht von „Doppelmoral“ in Anbetracht der
offensichtlichen Zwiespältigkeit in der Lebensgestaltung diesbezüglich
beschriebener Bevölkerungsgruppen sprechen. Eher wohl - und auch da
würde ich ihm zustimmen - wäre das gezeigte Verhalten einer (schon
pathogenen) Ambivalenz zuzuschreiben; eine Zerrissenheit zwischen
unterschiedlichsten konzeptionellen Denkansätzen, Theorien, Statements
zu jeweils aktuellen Problemfeldern der absehbaren Umweltkatastrophe.
Eine Zerrissenheit, wie sie insbesondere auch bei jenen sichtlichen
Ausdruck annimmt, die unter dem unerträglichen Druck der Erbsünde und
ihrer zwingend darauf folgenden Verfehlungen leiden. Nitzsche
sinngemäß: Die Katholiken - sie sehen mir alle so wenig erlöst aus!
Welch Parallelen sich hier doch auftun! So wird „Ablasshandel“
tatsächlich zum Gnadenakt für uns Erdenkinder - genial gelebtes „amor
fati“.
Bester Gruß an Dich und in die Runde! - Karl
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