Ich würde unterscheiden zwischen kausalen Zusammenhängen, regelgeleitetem Handeln und
Erleben. Das erste und das zweite finden wir auch bei Mechanismen und Algorithmen. Die
Frage ist, ob wir ihnen das Dritte einpflanzen können.
Bei der Verwendung von Farbworten z.B. folgen wir Regeln. Das Wort ist korrekt, wenn die
Farbe des damit bezeichneten Gegenstands der eines bestimmten Farbmusters entspricht. Wie
wir aber die Muster unterscheiden, das können wir nicht sagen. Wir können keine
Bedingungen dafür angeben, sondern nur die Muster zeigen. Das ist auch nur auf den ersten
Blick erstaunlich, denn wenn die Erklärung etwas erklären soll, muss sie irgendwann
beendet sein. Sonst würde man ja ewig nach den Bedingungen der Bedingungen etc.
weiterfragen und die Frage nach den Bedingungen oder Regeln für die Anwendung des Zeichens
wäre nie beantwortet.
In einem Kalkül, in dem es nur um Beziehungen zwischen Zeichen geht, leisten das, wenn ich
mich nicht irre, die Axiome. Ein Ausdruck ist korrekt, wenn er sich nach bestimmten Regeln
auf sie zurückführen lässt. Die Frage, ob das Axiom selbst denn auch korrekt gebildet ist,
hat so wenig Sinn wie die nach der Länge des Urmeters. D.h. die Erklärung der Zeichen
durch Axiome und Regeln funktioniert und führt nicht in einen endlosen Regress. Ich nehme
an, daß eine Maschine entsprechende Zeichenoperationen durchführen könnte, denn alles ist
durch Bedingungen geregelt.
Jetzt sollen aber die Zeichen unserer Umgangssprache nicht mit anderen Zeichen in
Beziehung stehen (manchmal ist das schon der Fall, z.B. bei Abkürzungen, die aber nur
Zwischenschritte zu einem anderen Zweck sind), sondern sie sollen unser Leben erleichtern
(angefangen hat das ganze vielleicht mit Buchführung über Vorräte) und bereichern. Dazu
müssen sie etwas mit ihm zu tun haben und die Verbindung wird etwa durch eine hinweisende
Definition hergestellt. Wie wir das machen, was wir da demonstrieren, dafür darf es keine
Erklärung geben, sonst wären wir ja gleich im endlosen Regress. "Aber gibt es denn
keine Bedingung dafür, daß ich das Gras als grün bezeichne?" Die Frage drückt aus,
daß die Bezeichnung natürlich nicht willkürlich ist und ist insofern berechtigt. Aber eine
Antwort wie "ich sage, daß es grün ist, weil es grün *ist*!" wäre keine, sondern
ein Pleonasmus.
Weil wir es uns nicht ausgedacht haben, im Gegensatz zum Kalkül, wissen wir selbst nicht,
wie wir es machen. Es gehört zur Grundausstattung des Lebens, mit der wir auf die Welt
kommen.
Also auch diese Erklärung des Zeichens leistet, was sie soll und beantwortet die Frage
nach der Bedeutung des Zeichens, ohne zu immer neuen Fragen zu führen.
Wenn man aber keine Unterscheidungsbedingungen angeben kann, wird sich das nicht in
Programmcode ausdrücken lassen. Es kann auch nicht durch Nachahmung erlernt werden. Die
Erklärung wird entweder verstanden oder nicht. Allerdings ist es möglich, Sinne durch
Implantate zu schärfen oder zu ersetzen. Wir bauen da etwas nach, das wir nicht erklären
können, bei dem die Frage nach einer Erklärung auch nicht passt, es sei denn, sie bezieht
sich nicht auf Handlungsbedingungen, sondern auf Erfahrungszusammenhänge. Im Prinzip ist
es ja nicht neu, daß es solche Zusammenhänge gibt, angefangen damit, daß wir nichts mehr
sehen, wenn wir die Augen schliessen, nur wissen wir es heute sehr viel genauer.
Womit wäre der Einbau eines Sensors in einen Roboter zu vergleichen: damit, daß ich
jemandem ein Messgerät gebe, mit dem ich ihn zu Farbunterscheidungen befähige, ohne ihn
sehend zu machen, oder mit dem Einsetzen eines Implantats?
Für die zweite Annahme spricht vielleicht, daß der Sensor mit der Maschine physisch
verbunden ist. Es handelt sich aber nur um eine Kausalkette - wie sie auch im Auge und
anschliessenden Verarbeitungsapparat stattfindet.
Wie könnte man entscheiden, ob die Maschine dabei etwas erlebt?
Ich kann ja nicht mal "entscheiden", ob ich selbst etwas sehe und
gegebenenfalls, was ich sehe, wenn unter entscheiden ein Verfahren verstanden wird, bei
dem man feststellt, ob bestimmte Bedingungen erfüllt sind oder nicht.
Vielleicht kommt hier ähnlich wie bei der Farbwahrnehmung die unmittelbare Mustererkennung
ins Spiel? Die ist aber anthropozentrisch. Man erkennt damit, was einem ähnlich ist und
auch den Unterschied zwischen Gebilden, die vom Erleben ausgehen und blossen
Nachahmungen.
Mindestens in einem Punkt muss ich meine letzte mail korrigieren: die Aktivität des
Rezipienten ist nicht unbedingt eine Besonderheit der Literatur, nur daß sie bei anderen
Künsten nicht im Hinzufügen, sondern im Zusammenfassen z.B. zu Melodie, Rhythmus, Gesicht
besteht.
Grüsse, Claus
Am 21. Juni 2020, 10:46, um 10:46, Ingo Tessmann <tessmann(a)tu-harburg.de> schrieb:
Am 19.06.2020 um 20:23 schrieb Claus Zimmermann
<mail(a)clauszimmermann.de>de>:
Man stellt sich beim Lesen etwas vor. Dabei wird das Gelesene mit
Details ergänzt
und ausgemalt, die der eigenen Erfahrung und Erinnerung
entstammen, aber nicht wesentlich sind. So ist es vielleicht nicht
wesentlich, ob die Figur Sommersprossen hat (vielleicht schon, dann
wird es der Autor erwähnt haben), aber wir stellen sie uns so vor, weil
sie uns an jemanden mit Sommersprossen erinnert. Ebenso hat auch der
Autor nicht nur Worte aneinandergereiht. So ansprechen, daß unsere
Vorstellung angeregt wird, kann er uns nur von Mensch zu Mensch, indem
er innere Bilder und Vorgänge, die ihm etwas bedeuten, weil sie mit
seinem Leben zu tun haben, möglichst plastisch wiedergibt, indem er
alles unwesentliche weglässt.
Das ist meiner Meinung nach eine Spezialität der
Literatur. Bei einem
Bild, Film oder Musikstück muß der Betrachter oder Hörer
nichts
hinzufügen, sondern nur wahrnehmen und mitgehen.
Hi Claus,
eine Literaturverfilmung schränkt die vielen Vorstellungen der Lesenden
natürlich ein, aber es bleibt immer noch viel Spielraum für
Assoziationen, Abschweifungen und Vergleiche. Ebenso ist es bei Malerei
und Musik, man kann einfach mitgehend schauen und hören, aber auch
abschweifen und assoziieren, mitfühlen und analysieren. Ein Romantext
könnte auch mit einer Partitur verglichen und das Vorlesen des Textes
mit der Aufführung der Partitur. Ich sehe den Unterschied der anderen
Künste zur Literatur nur graduell, nicht grundsätzlich; schließlich ist
ja das Sprechen aus dem Schreien, den Warn- und Hinweisrufen wie dem
Singsang hervorgegangen und die Schrift war ursprünglich Bildsprache.
Groschenromane könnte man so fabrizieren. Man
weiß z.B.: Figur
rutscht auf Bananenschale aus, Leser ist mehrheitlich erfreut. Aber
die
umgestaltete Darstellung von Erfahrungen, die einen bewegt haben und
die deshalb auch den Leser, der ja nicht von einem anderen Stern kommt,
ansprechen können, ist etwas anderes.
Auch hier sehe ich nur einen graduellen, keinen grundsätzlichen
Unterschied in der Bewegtheit. Schlichte Gemüter und einfältige Geister
fühlen und denken natürlich anders als die Feinsinnigen und
Intelligenten, aber das sehe ich als eine Art von Verfeinerung, bei den
Künsten ähnlich wie bei den Wissenschaften, die allesamt Verfeinerungen
des Alltags sind.
Um ein Künstler zu werden, müsste er menschliche
oder vergleichbare
Erfahrung kennen. Die besteht nicht darin, wie eine Maschine
nach
Regeln zu handeln. Die Regeln kommen dann später, indem man etwa
festlegt, daß man einen Gegenstand, der so aussieht, wie diese
Gegenstände hier, als grün bezeichnet. Man appelliert dann an ein
Verständnis, das nicht Regeln folgt, aber natürlich alles andere als
willkürlich ist. Man kann sich ja nicht aussuchen, welche Farbe etwas
hat, das man sieht. Wie sollte man das also dem Computer in Form einer
wenn-dann-Regel einprogrammieren? Natürlich kann man ihn wie auch einen
Blinden mit einem Sensor ausstatten. Aber das heißt nicht, daß er
sieht. Der Unterschied besteht darin, daß der Sensor den Computer oder
Roboter unter einer bestimmten Voraussetzung zu einer bestimmten Aktion
veranlasst. Eine Messung findet statt, die Aktion wird ergebnisabhängig
ausgelöst oder nicht. Aber was ist die Voraussetzung für eine
Farbunterscheidung? Da kann man nur sagen "das siehst du doch" und wenn
das nicht verstanden wird, ist man mit seinem Latein am Ende.
So wie wir als Kinder die Verwendung der Farbwörter gelernt haben,
lassen sich auch die neuronalen Netze in den Robotern trainieren, die
man bereits wie Kinder in Familien mitspielen lassen kann. Ich sehe
wiederum nur einen graduellen, keinen grundsätzlichen Unterschied.
Der Computer wird auch das Geheimnis des Witzes
nicht dadurch
enträtseln, daß er anhand möglichst vieler Fälle untersucht, worüber
Menschen lachen, auch wenn er dann mit zunehmender Trefferquote Humor
simulieren könnte.
Worüber Menschen lachen, ist schon bei ihnen sehr unterschiedlich,
lachen viele doch einfach nur mit oder sind bloß empört, je nach Niveau
des Witzes. Witzig sind häufig ja ungewöhnliche Wendungen oder
Verbindungen, so dass sich die Verblüffung über das Unerwartete in
Lachen äußert. Dieses Erwartungs/Erfahrungs-Wechselspiel müssen auch
Kinder erst lernen, warum sollten es Roboter nicht auch lernen können.
Zum Schluss ein Vierzeiler von Günter Grass, über den ich jedesmal
erneut lachen kann, aber manche Menschen überhaupt nicht:
Tour de France
Als die Spitzengruppe
von einem Zitronenfalter
überholt wurde,
gaben viele Radfahrer das Rennen auf.
Lachend grüßt
Ingo