Am Mo., 20. Dez. 2021 um 07:33 Uhr schrieb waldemar_hammel via Philweb
<philweb(a)lists.philo.at>at>:
ich habe die links jetzt alle gelesen, und stimme in form meiner eigenen
"vor-urteile" mit obiger analyse (im link) weitestgehend überein,
was mich zur meinung bringt, man solle "klare kante" zeigen, zb die
c.impfpflicht möglichst rasch einführen + die begleitmaßnahmen durchsetzen,
denn man kann zwar in guten zeiten gegnerschaften zu moderner medizin zulassen und
aushalten, aber jetzt befinden wir
uns in einem pandemischen geschehen,
und das sind ausgesprochen schlechte zeiten, um mit einem grassierenden virus zu
diskutieren,
Hier möchte ich noch ganz kurz eine Sachen sagen:
Diese Zeilen klingt so, als würdest du dir die Zusammensetzung der
Impfgegner ansehen und dann sagen, "okay, dann klare Kante".
Das scheint mir als Argument inakzeptabel.
Es gibt meines Erachtens zum Thema Impfpflicht einige rationale Bedenken..
1. Der erste Grund ist trivial, aber rechtlich gedacht (oder was ich
dafür halte) :
1.1. Der Staat muss im Zweifelsfall eher Lockdowns verhängen als
Impfpflicht, weil das einen weniger schwerwiegenden Eingriff in die
Grundrechte darstellt.
1.1.1. Der Staat muss, wenn er zwischen zeit Grundrechtseingriffen
wählen muss, den milderen wählen.
1.1.2. Eingriff in die körperliche Selbstbestimmung (z. B. Impfen
gegen den eigenen Willen) ist ein schwerwiegenderer Eingriff als eine
zeitlich befristete, partielle Einschränkung der Freizeitaktivitäten.
1.1.2.1. Lockdowns sind nichts anderes als "zeitlich befristete,
partielle Einschränkung der Freizeitaktivitäten". (Die zeitliche
Befristung kommt durch Inzidenzen/Bettbelegung usw. zu Stande.)
1.1.3. Der "Volkszorn" der Geimpften kommt dabei nicht in Betracht.
1.1.3.1. Das Grundgesetz erlaubt auch Verwendungen der individuellen
Freiheit, die bei anderen Menschen auf Ablehnung stoßen.
1.1.3.2. Die Stimmung bezüglich der Impfgegner usw. ist ohnehin
Änderungen unterworfen.
1.2. Eine Impfflicht ist nicht legitim, weil dadurch Menschenleben
gegeneinander aufgewogen werden.
1.2.1. Der Staat darf nicht Menschenleben quantitativ gegeneinander aufwiegen.
1.2.1.1. Das ergibt sich aus dem Urteil bezüglich des Abschießens von
entführten Passagierflugzeugen 2006. ((BVerfG, Urteil des Ersten
Senats vom 15. Februar 2006- 1 BvR 357/05 -, Rn. 1-156,
http://www.bverfg.de/e/rs20060215_1bvr035705.html ))
1.2.1.2. Die Begründung basiert auf der kantischen Mensch-Zweck-Formel.
1.2.2. Derjenige, der jemanden zu einer medizinischen Therapie gegen
seinen Willen zwingt, ist zweifellos für etwaige Komplikationen
verantwortlich.
1.2.2.1. Dass der Staat die Verantwortung auch übernimmt sieht man u.
a. am Haftungsrecht.
1.2.3. Eine Impfpflicht wäre eine Gesetzgebung, die effektiv
Menschenleben quantitativ gegeneinander aufwiegt.
1.2.3.1. Wenn auch nur ein einziger Mensch ohne seine Zustimmung
geimpft wird und in Folge von Komplikationen verstirbt, dann hat man
seinen Tod offenbar in Kauf genommen, um den Tod von anderen Menschen
zu verhindern.
1.2.3.2. Eine Impfflicht erfolgt offensichtlich darum, weil die
Verantwortlichen dadurch Menschenleben retten wollen.
1.2.3.3. Die Regierung muss sich auch dessen bewusst sein, dass von
Millionen von Menschen, die geimpft werde, einige an Komplikationen
leiden werden. (Gespiele Naivität ist kein Argument.)
Bedauerlicherweise einige auch sterben könnten.
1.2.4. Bei einer freiwilligen Impfung oder den Werben dafür besteht
dieses Problem nicht.
1.2.4.1. Das Individuum hat nach dem Willen des Grundgesetzes durchaus
im gewissen Rahmen die Freiheit, Risiken einzugehen.
1.2.4.2. Der Staat darf nicht gesetzlich anordnen, ein Menschenleben
gegen ein anderes aufzuwiegen, aber das bindet nicht das Individuum,
sich ggf. selbst zu opfern.
2. Es ist auch ethisch nicht völlig klar, ob eine Impfpflicht eine
besonders gute Idee wäre.
2.1. Die Hürden für eine Zwangsweise medizinische Maßnahmen sollten
besonders hoch sein.
2.1.1. Es liegt im rationalen Eigeninteresse des Individuums, die
Hürden möglichst hoch anzusetzen.
2.1.1.1. Durch die Etablierung einer gesetzlich durchgesetzten
Impfpflicht würde ein Präzedenzfall geschaffen, auf die sich spätere
Regierungen berufen könnten.
2.1.1.1.1. Es ist unklar, für welche andere Inanspruchnahmen des
Individuums diese Präjudiz herangezogen werden könnte.
(Dammbruchargument.)
2.1.1.1.2. Eine zweite Pandemie unter geänderten Rahmenbedingungen ist denkbar.
2.1.1.1.3. Es ist unklar, ob und falls ja welche nationalen
Gesundheitsgefährdungen der Covid19-Pandemie entsprechen.
Beispielsweise Übergewicht, Zucker, Luftverschmutzung.
2.1.1.2. Ein Individuum sollte sehr hohe Hürden für medizinische
Zwangsmaßnahmen fordern, da diese seiner persönlichen Autonomie
einschränken.
2.1.1.2.1. Es ist für das Individuum zunächst erstmal wünschenswert,
die Entscheidung selbst zu treffen statt diese Entscheidung getroffen
zu bekommen.
2.1.1.2.1.1. Es gibt psychologische Studien, die gezeigt haben wollen,
dass ein Individuum zufriedener ist, wenn es zumindest die Illusion
von Selbstbestimmung hat.
2.1.1.2.1.2. Das Individuum kann niemals zu 100% Sicher sein, dass die
Entscheidungen, die ein andere Instanz für es trifft, auch in seinem
Interesse ist.
2.1.1.2.1.3. Es kann argumentiert werden, dass das Individuum seine
Verantwortung nicht loswird. Es ist immer noch eine persönliche
Entscheidung, ob man sich widersetzt oder gehorcht. Nur die
Konsequenzen eines Widersetzens sind eben schwerwiegender. Das
Individuum möchte deshalb diese Konsequenzen aber möglichst niedrig
halten.
2.1.1.2.2. Diese Autonomie kann als "Wert an sich" betrachtet werden.
2.1.1.2.3. Eine gesetzliche Pflicht zu einer bestimmten Handlung ist
eine Einschränkung der Autonomie.
2.1.1.2.3.1. Das Argument ist nicht spiegelbildlich zum Verbot, da
Verbot lediglich ein Unterlassen vorschreibt. Beispielsweise das
Verbot, sich mit fremden Leuten irgendwo zu treffen.
2.1.2. In einer Demokratie muss der Staatsbürger selbstständige
Entscheidungen treffen. Da jeder Bürger ein Interesse am Erhalt der
Demokratie hat, sollte er auch ein Interesse an einer sehr behutsamen
Einschränkung der Entscheidungsfreiheit haben.
2.1.2.1. Man darf davon ausgehen, dass der Bürger unter vergleichbaren
Bedingungen in einer Demokratie besser behandelt wird als in anderen
Staatsformen.
2.1.2.2. Der Bürger möchte möglichst gut behandelt werden.
2.2. Gegen seinen ausdrücklichen Willen eine medizinische Therapie
machen zu müssen kann negative psychische Wirkungen haben.
2.2.1. Zwang ist generell negativ.
2.2.2. Wenn Eingriffe auch körperlich sind, ist der Zwang natürlich
besonders schwerwiegend.
2.2.3. Einzelne Betroffene können sich als ohnmächtig Ausgeliefert fühlen.
2.3. Es gibt den sog. "Nocebo-Effekt", das heißt, auch wenn die
Impfung keinerlei medizinisch-wissenschaftliche nachweisbare negative
Wirkung hat, kann es beim Impfgegner zu negativen Folgen kommen.
2.3.1. Viele Impfgegner sind subjektiv stark davon überzeugt, dass die
Impfung schwerwiegende Nebenwirkung hat. (Wie rational begründet
dieser Überzeugung ist, spielt für diese Argumentation keine Rolle.)
2.3.2. Wenn Versuchspersonen davon überzeugt sind, dass ein Medikament
negative Folgen hat, treten diese bisweilen auch auf. Dies nennt man
den "Nocebo-Effekt".
2.3.3. Aufklärung über die realen Risiken der Impfung im Vergleich zur
Covid-Krankheit wird dadurch erschwert, dass die Impfgegner gegen
ihren Willen zum Impfen gezwungen werden sollen.
2.3.3.1. Menschen reagieren auf Zwang mit Trotz.
2.3.3.2. Durch die Impfpflicht üben wir klar einen Zwang aus.
2.4. Eine Pflicht zur Impfung wird die Gesellschaft spalten.
2.4.1. Selbst wenn man selbst nicht an der Spaltung der Gesellschaft
schuld trägt, sollte man diese dennoch vermeiden, aufgrund der
negativen Folgen, die dies haben kann.
2.4.1.1. Wenn z. B. alle Menschen im selben Boot sitzen würden und
jemand fängt an, ein Loch in dieses zu bohren, wäre es extrem
irrational sich damit zufrieden zu geben, dass man selbst ja nicht
schuld ist. Man würde diesen Jemand oder diese Jemand daran hindern,
das Loch zu bohren, da man selbst und andere Menschen dadurch in
Mitleidenschaft gezogen werden.
2.4.1.2. Ein weiser Staatsmann sollte nach den Konsequenzen handeln,
nicht nach dem Grad seiner persönlichen Schuld. Für den Bürger ist es
ausreichend, wenn er sich selbst nicht an einem Verbrechen beteiligt,
für einen Polizisten kann die Pflicht bestehen, dieses aktiv zu
vereiteln.
2.4.1.3. Eine Spaltung der Gesellschaft wird, selbstverständlich,
negative Folgen haben.
2.4.1.4. Es ist auch etwas anderes, als sich von den Impfgegnern
"erpressen" zu lassen.
Alle obigen Zeilen sind ausschließlich als Gedankenspiel zu
betrachten. Sie stellen nicht zwangsläufig die "tiefen Überzeugungen"
des Verfassers dar oder ein endgültiges Urteil.