Hallo in die (hoffentlich erreichbare) Runde!
zuletzt war hier über das Thema Verantwortung (die Frage nach ihrer
Delegierbarkeit) geschrieben worden, wie auch bei der Ende letzten
Jahres entstandenen Diskussion um die Verantwortung der großen
Weltreligionen (ausgelöst durch Politiker-Kommentare im Kontext der
Attentate in Paris).
Der Ruf nach Verantwortung hat im gesellschaftlichen Diskurs der
Gegenwart eine beachtliche Dominanz entwickelt. Eine Erklärung dafür
kann sein, dass die permanente Präsenz weltumgreifend stetig komplexer
und dringlicher werdenden Probleme (Umwelt/Klima, Ressourcenverteilung,
Kriege/Terrorismus, Migration, Wirtschafts-/Finanzkrisen, ökonomischer
Wachstumswahn usf.), vermittelt und verstärkt durch eine omnipräsente
Medienlandschaft , zu einer mentalen Überfrachtung der Gesellschaft
führt, die individuelles wie kollektives Problembewusstsein schlicht
überfordert.
Moderne Gesellschaften (durchaus im Sinne von Poppers „open society“)
sehen sich mit diesen akut die Menschheit und ihren Lebensraum
bedrohenden Problemen konfrontiert; Probleme, die sehr wohl
„menschengemacht“ und somit einem Mangel an Verantwortung (unzulängliche
Technikfolgeabschätzung, Huldigung und Duldung eines ungegezügelten
Kapitalismus, Ignoranz i.A. und so fort) entsprungen sind.
Das klassische Verantwortungsprinzip hat seine ethische Souveränität
bezüglich moralischer wie rechtlicher Regeln verloren und verführt
letztlich nur noch dazu, die entstandene normative Rat- und
Hilflosigkeit in Politik und Gesellschaft durch beliebige gegenseitige
Verantwortungszuweisungen zu kompensieren (Heidbrink hat das in „Kritik
der Verantwortung“ deutlich herausgearbeitet).
*Trotz aller Vorgaben (z.B. Corporate Social Responsibility als
EU-Richtlinie) und Appelle *erweist sich das vorherrschende allgemein
gesellschaftliche Verantwortungskonzept als untauglich, die aufgeführten
Probleme in den Griff zu bekommen. Dies gilt jedoch auch für die nicht
endenden Forderungen an den Einzelnen nach mehr
Verantwortungsbewusstsein und Moral. Sie scheinen eher zu Abstumpfung
(vornehmlich auch gegenüber unerträglich gewordener medienpolitischer
Heuchelei) und Auflehnung gegen einen gewissen Neo-Moralismus zu führen,
der sich letztlich meist nur als Scheinmoral entpuppt. Derartige
Verantwortungskonzepte zum Zwecke normativer Steuerung von
Gesellschaften haben ihre Parallele zu entsprechenden
Steuerungsmechanismen klerikaler Machtstrukturen. Sie entpuppen sich
letztlich als untauglich, die Problemfelder moderner Gesellschaftsformen
zu beherrschen.
Ich hatte mich in meinem letzten Beitrag hier zum Thema Verantwortung
geäußert und dabei angemerkt, dass der allgemeine Verantwortungsbegriff
in seiner Vielschichtigkeit es unmöglich macht, eine tiefer greifende,
hinreichend erschöpfende (durchaus philosophisch orientierte) Antwort
[auf die Frage nach Delegierbarkeit von Verantwortung] zu entwickeln,
ohne eine entsprechende Differenzierung vorzunehmen.
Natürlich ist alles schon über „Verantwortung“ geschrieben. Tausendfach.
Durchaus auch differenziert und in unübersehbarer Fülle ausgeführt in
bisweilen genial analytischer Brillanz. Doch: wer will es noch lesen,
wer kann es noch lesen, wer soll es lesen?
Man kann bei Anaximander beginnen („...denn sie zahlen einander gerechte
Strafe und Buße für ihre Ungerechtigkeit, nach der Zeit Anordnung.“) und
in Aristoteles‘ Imputationslehre (Nikomachische Ethik) über die
Voraussetzung (Tatherrschaft) persönlicher retrospektiver Verantwortung
lesen. Platons Ideal vom organischen „Staatsgebilde“ würde eher für
tribalistische Kollektive mit magisch stammestümlichen Strukturen
passen, die durch rigide kollektive Verhaltensmuster und Tabus dem
Individuum kaum Raum für persönliche Verantwortlichkeiten ließen.
Mit den Griechen vollzog sich dann aber der Schritt vom Tribalismus
(closed society) hin zu heutigen Gesellschaftsformen (open society). Bei
allen Vorteilen einer offenen Gesellschaft sind doch seine Gefahren
nicht zu unterschätzen, wo definitiv zu viele Menschen, vornehmlich als
Bewohner urbaner Lebensräume, in - oft selbst gewählter - Anonymität und
Isolation (d.h. ohne bzw. mit sehr wenigenpersönlichenKontaktenzum
sozialen Umfeld) leben.
Selbst (und insbesondere heute)weitest verbreitete, in Form technischer
Geräteals (Ver-)Mittler sozialer Kontakte fungierend,können den
essentiell notwendigen persönlichen Bezug zum gesellschaftlichen Umfeld
nicht ersetzen. Diese Menschen (obgleich omnipresent in sog. sozialen
Netzen) sind nur noch Teil einer abstrakten entpersonifizierten
Gesellschaft; ihr Leben in sog. Virtual Reality hat jeglichen
gemeinsachaftlich organischen Charakter verloren, der nach Platons
(wenngleich durchaus heuristisch gesetztem) Staatsideal jedoch Grundlage
für ein funktionierendes Gesellschaftsmodell ist.
Dieser sozialen Deprivation entgehen jene Menschen, die entsprechend
ihrer innewohnenden tribalistischen Neigung sich in Gesellschaft begeben
(Vereins- und Kulturleben, Ehrenamt usf.). Dort findet sich dann auch
real (vor)gelebte Verantwortung für dasGemeinwesen, für die Umwelt, für
die eigene Lebensführung und dies ohne Appelle und Vorgaben.
Mit dieser positiven Sicht auf ein gelebtes Verantwortungsprinzip möchte
ich diesen Beitrag schließen, nicht ohne bei nächster Gelegenheit auf
weitere bedeutsame Aspekte von Verantwortung eingehen zu wollen. Etwa
Verantwortbarkeit im Kontext von Aristoteles‘ „Tatherrschaft“ (unter
welchen Umständen existiert Handlungsfreiheit und -möglichkeit, bzw.
besteht im Rahmen menschlichen Handelns tatsächlich Willensfreiheit,
darüber hinaus biologisch-neuromedizinische Aspekte u.a. infolge von
Hirnschädigungen des PFC).
Bester Gruß in die Runde! Karl
PS: Mittlerweile habe ich Zweifel, ob nach der technischen Umstellung
(Serverwechsel) von Philweb diese Liste auch wirklich von allen
eingetragenen Mitgliedern erreicht wird. So wäre es wichtig, dass sich
zumindest einige der „altbewährten“ Protagonisten (ggf. in Replik auf
diesen Beitrag) melden.
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