Am 30.06.2020 um 22:54 schrieb Rat Frag
<rat96frag(a)gmail.com>om>:
Wenn ich das richtig memoriere, dann hattest du folgendes Argument gebracht:
1. Niemand kann das aktual Unendliche beweisen.
|=> Das aktual Unendliche gibt es nicht.
Hi Rat Frag,
ausgegangen waren wir von meiner Analogie zwischen Unschuldsvermutung und
Nichtexistenzannahme. Ich schrieb am 1. Juni u.a.: Ist Schuld menschengemacht, das, was es
gibt aber vorgegeben? Die rechtlichen Regelungen werden im Parlament, die technischen
Regeln im Experiment bestimmt. Wer gegen keine rechtliche Regelung verstoßen hat, gilt als
unschuldig, was nicht experimentell nachweisbar ist, gilt als nichtexistent.
Diese Schlussfolgerung ist meines Erachtens falsch.
Sie lässt sich nur komplettieren durch eine zusätzliche Annahme wie
"was sich nicht beweisen lässt, existiert nicht".
Genau diese Annahme würde ich bestreiten. Für mich ist das ein
Subjektivismus davon auszugehen, dass Dinge, die der Mensch nicht
kennt, tatsächlich nicht existieren.
Wie bei der Schuld, im Zweifel für den Angeklagten, egal ob Mensch oder Natur. Zwischen
Schuld und Unschuld liegt der Verdacht, zwischen Existenz und Nichtexistenz die Vermutung.
Was spricht denn für die Unschuldsvermutung? Gerechtigkeitssinn? Und was für die
Nichtexistenzannahme? Wahrheitsliebe?
Man könnte jetzt alternative Formulierungen einbringen
wie "Dinge, die
nicht existieren, dürfen nicht Gegenstand einer wissenschaftlichen
Theorie sein". Ich vermute, du würdest den Satz vervollständigen
wollen... Dann wären wir:
1. Niemand kann das aktual Unendliche beweisen.
2. Wissenschaftliche Theorien sollten so wenig ontologische Annahmen
machen wir möglich.
3. Die Annahme von unbewiesenen Dingen ist immer eine überflüssige
ontologische Annahme.
|=> Wissenschaftliche Theorie sollten nicht das aktual Unendliche beinhalten.
Ich halte die Prämisse (3) für unklar oder problematisch.
In der Mathematik geht es ja bloß formal zu, da kann man natürlich mit geeigneten Axiomen
alles beweisen.
Darwin hat seine Evolutionstheorie bekanntlich bereits
aufgestellt,
bevor die Natur der Erbsubstanz gelüftet wurde. Die DNA wurde meines
Wissens erst nach dem Tode Darwins entdeckt.
Ebenso gehen Physiker meines Wissens von der Existenz von Teilchen in
ihren Theorien aus und versuchen diese dann erst zu beweisen.
In den Naturwissenschaften geht es um Realien, die nicht nur formal, sondern auch
experimentell nachgewiesen werden müssen. Solange Teilchen lediglich formal als existent
bewiesen wurden, gelten sie lediglich hypothetisch als existent. Alles hat seine Zeit. Die
Gravitationswellen gibt es hypothetisch seit 1915, physisch seit 2015. Und rückblickend
gibt es sie womöglich seit über 13 Mrd. Jahren.
Gerade die Mathematik ist aber eine große Ausnahme,
weil es dort
offenbar auch alternative Axiomatiken usw. gibt. Wieso sollte es nicht
eine Mathematik geben, die das aktual Unendliche impliziert und eine,
die versucht ohne diese auszukommen?
Ja, wer Mathe bloß als Spielerei oder science fiction ansieht, der arbeitet mit seinen
Axiomen wie es ihm beliebt und freut sich über die Einsichten, die dabei abfallen. So ist
das ja auch in der science fiction. Aber hört der Spaß nicht auf, wenn es um die realen
Folgen bloß formaler Annahmen geht? In der Umgangssprache wird ja ständig vorverurteilt
und Wahnvorstellungen, wie Religionen, Esoteriken, Ideologien, Verschwörungsmythen, werden
ernst genommen. Lynchjustiz und Kriege sind die Folgen. Wäre da nicht immer wieder für
eine achtsame Sprache zu argumentieren, in der nicht schon verdächtig für schuldig und
bloße Worterfindungen aus Wahnvorstellungen für Existenzen angenommen werden?
Nietzsche hatte die Umgangssprache berechtigterweise als Religion fürs Volk bezeichnet, da
grammatisch korrekt jeder Unsinn behauptet werden kann. In der Mathematik wirkt die
Konsistenz einschränkend, in der Physik zusätzlich das Experiment. Was wirkt in der
Umgangssprache einschränkend? Ich sehe einen Zusammenhang zwischen umgangssprachlicher
Grammatik und mathematischem Formalismus. Für die Formalisten gewährleistet Konsistenz
bereits Existenz. Gegen dieses Programm Hilberts wandten sich ja bereits die
Intuitionisten, später dann die meth. Konstruktivsten.
Zu Nietzsches Religionskritik: Hans Hoedl, "Nietzsches Religionskritik. Eine
Hinführung." Zitat Nietzsche: "Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil
wir noch an die Grammatik glauben.“ Und wer kennt nicht das Zitat aus dem Faust, in dem
Goethe sich unverhohlen über die Gutgläubigkeit seiner Zeitgenossen lustig macht:
„Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört, es müsse sich dabei doch auch was
denken lassen.“
Zum Hilbertprogramm siehe CHRISTIAN TAPP, AN DEN GRENZEN DES ENDLICHEN —
ERKENNTNISTHEORETISCHE, WISSENSCHAFTSPHILOSOPHISCHE UND LOGIKHISTORISCHE PERSPEKTIVEN AUF
DAS HILBERTPROGRAMM. Zitat Hilbert: "Wenn sich die willkürlich gesetzten Axiome
nicht einander widersprechen mit sämtlichen Folgen, so sind sie wahr, so existieren die
durch die Axiome definirten Dinge. Das ist für mich das Criterium der Wahrheit und
Existenz.“
Es grüßt,
Ingo