Man kann sich ja mal spaßeshalber auch überlegen, ob es nicht eine (vielleicht kaum
eingestandene) Genugtuung bei den Usern gibt darüber, daß sie im Netz Datenspuren
hinterlassen. "Spuren hinterlassen wollen" ist ja vielleicht eine
anthropologische Grundtendenz, ein existentieller Wunsch, eine "Begierde": dafür
hat man früher Apfelbäumchen gepflanzt, Kinder in die Welt gesetzt (und entsprechend
"erzogen"), Bücher geschrieben, Kunstwerke geschaffen usw. Man will in seinem
(und trotz seines) kurzen Erdenleben(s) etwas "Bleibendes" schaffen. Das könnte
sich nun aus naheliegenden Gründen (Pflanzen, Zeugen, Schreiben: alles so anstrengend!)
"Herunter-Sublimiert"-Haben auf die elektronischen Bewegungs-Profile, die man im
Internet und auf den Monitoren der Überwachungsorgane hinterläßt. "Man kennt
mich": das hat doch auch etwas Befriedigendes, Selbstbestätigendes. Daß Amazon meine
ungefähren Buchwünsche schon im voraus kennt, ist doch genauso bauchpinselnd-wohltuend,
wie der Umstand, daß der Kellner in meiner Lieblingsbar schon im voraus, schon wenn ich
zur Tür hereinkomme, weiß, daß ich den Kaffee schwarz und mit viel Zucker trinke.
Die Frage wäre also vielleicht: könnten wir auch noch "Menschen" sein und uns
als solche fühlen, wenn wir KEINE Spuren, egal welcher Art, egal wo, hinterlassen? Nicht
nur "Die Frau ohne Schatten", sondern schatten- und spurenlose, gestaltlose,
unfaßbar-unerfaßbare Wesen sein, ohne Geschichte, Aktivitäten, Resultate, Ereignisse?
Einfach unter allen Monitoren und Radaren dieser Welt durchtauchen, nirgendwo auffallen,
nirgendwo "zu Buche schlagen", nie namentlich "geführt werden",
unidentifizierbar und identitätslos bleiben...? (wie Odysseus seine Haut retten, weil er
"Niemand" ist).
Ginge das? Wäre das denkens- und wünschenswert?
fragt sich manchmal
Joachim Landkammer
(apropos "keine Spuren hinterlassen..." vgl. freilich auch
https://spiritusblog.com/)
-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: Philweb [mailto:philweb-bounces@lists.philo.at] Im Auftrag von Claus Zimmermann via
Philweb
Gesendet: Samstag, 29. Juli 2017 15:43
An: Philweb(a)lists.philo.at; Rat Frag <rat96frag(a)gmail.com>
Betreff: Re: [Philweb] Brauchen wir einen digitalen Habeas Corpus?
[Philweb]
Wenn es vor 20 Jahren eine Umfrage gegeben hätte: "Sind Sie damit einverstanden, dass
staatliche Behörden Ihre Kontakte, Bewegungen und Einkäufe protokollieren und jederzeit
ohne weiteres darauf zugreifen dürfen?" - ich glaube, man wäre für verrückt erklärt
worden.
Es gibt vernünftige und unvernünftige Gründe für die Datensammelei und ich weiß nicht
genau, ob Behörden jederzeit ohne weiteres auf die Daten zugreifen dürfen. Zumindest für
den Einsatz des Staatstrojaners, was ja noch einen Schritt weitergeht, ist, glaube ich,
ein richterlicher Beschluss erforderlich. Ich meine, auch für den Zugriff auf
Vorratsdaten. Falls es in der Praxis die Notwendigkeit eines schnellen Durchwinkens geben
sollte, sollte es zumindest die Möglichkeit einer gründlichen rechtlichen Überprüfung mit
unangenehmen Konsequenzen eines Missbrauchs geben.
Das alles würde uns natürlich nicht vor ausländischen Geheimdiensten oder Kriminellen
schützen. Aber die haben immerhin keine Regierungsgewalt über uns.
Heute hat sich übrigens das Tablet, mit dem ich das hier schreibe, selbständig gemacht und
etwa 2 Stunden, bevor ich es in die Hand genommen habe, 2 Mails ohne Betreff an mich
verschickt. Aber das hier habe ich selbst verzapft, Ehrenwort.
Claus
null
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