Liebe Liste (?),
ich lese und schreibe hier ja praktisch nur noch aus Versehen mit, und wenn ich die
letzten Posts in dieser Sache so überfliege, weiß ich auch gleich wieder, warum...
Aber auch wenn Karl J. das am wenigsten nötig hat, dann will ich doch nochmal hier meinen
Hut für ihn und seine Position, besser: seine "Haltung", in den Ring werfen,
ganz einfach, weil sie mir, völlig abgesehen von allem anderen, die
"philosophischere" und "zeitgemäßer philosophische" zu sein scheint.
Denn ich halte es für ziemlich altbacken und unphilosophisch, wenn hier immer noch mit dem
guten (nein: schlechten) alten Aufklärungsfuror pauschale Verdammungsurteile pronunziert
werden, von den höheren Kanzeln einer selbst berufenen, durch "historische" und
ökonomische "Fakten" gestützten Vernunft herab - als ob das überhaupt etwas
damit zu tun hätte. (Das ist ein bißchen wie auf die "Pharmaindustrie" zu
schimpfen, nur weil sie jetzt mit dem Impfstoff weltweit Milliarden verdient... sollen wir
stattdessen lieber nicht impfen oder wie?).
Was immer es gegen die Institution "Kirche" zu sagen gibt (und es gibt
vielleicht in historischer Hinsicht und mit institutionenreformierender Absicht eine Menge
zu sagen), es kann ja wohl kaum geleugnet werden, daß sie die einzige soziale stabile Form
ist, in der heute noch so etwas wie die Idee eines "Mehrwerts" an
"Sinn" über den blöden Alltag, den dumpfen Konsum, die eigenen politischen
Interessen, die dauernde egozentrische Selbstbeweihräucherung und das ganze langweilige
endliche Leben hinaus artikulierbar bleibt. Und man sage jetzt nicht, daß dafür doch
längst alternative, laizistische, von dieser schröcklich-mittelalterlichen Vergangenheit
glücklich befreite und emanzipierte "Sinn-Lieferanten" bereit stünden: das
meiste davon läuft auf Esoterik, Sektarismus (z.B. unter dem Banner des sog.
"Humanismus"...), und sonstige breitbeinig-populistische
weltlich-allzu-weltliche Ideologien hinaus. Ich würde die Vermutung in den Raum stellen:
alles, was heute auch nur einen minimalen Schritt über den blanken
Fakten-Fakten-Fakten-Positivismus und seinen stupiden Reduktionismus hinausgehen will, muß
in der einen oder andern, mal mehr mal weniger deutlichen Form "religiös" sein,
oder meinetwegen "metaphysisch", was ja nur heißt (heißen könnte): denkerisch
mit dem Undenkbaren umgehen, reflektiert mit sich der Reflexion Verweigerndem rechnen,
rational das Irrationale das "Andere des Denkens" sein zu lassen usw. usw. Und
dazu gehört dann auch die Vermutung, daß Vorläufer, Anregungen, Debatten, Theorie-Schulen,
Publikationen u.a. für ein SOLCHES Denken eben nur im "Schutzraum" (heute:
"safe space") einer Institution zu finden waren und sind, die durch die
Stabilität ihrer ganzen historisch gewachsenen, rechtlichen, administrativen,
ideengeschichtlichen Struktur eben zumindest die bleibende Relevanz dieser EINEN,
vielleicht aber menschheitsüberlebenswichtigen Idee garantiert: es gibt mehr als den
Alltag, die Materie, die Wissenschaft, das Fressen. (Vgl. Luhmann 1993 über Jura und
Theologie: "Anscheinend können Funktionssysteme gerade dann, wenn sie
'Dogmatik' als Grundlage ihrer Selbstbeschreibung akzeptieren, hinter diesem
Schutzschirm größere Reflexionsfreiheiten mobilisieren.")
Und bevor jetzt gleich, sehr erwartbar, mit Ketzerprozessen und brennenden Scheiterhaufen
gegen diese "Reflexionsfreiheit" argumentiert wird: daß "Dogmatik"
ihre Kosten und ihren Preis hat, kann man seit Foucault nicht mehr für eine archaische
Besonderheit der kirchlichen "Diskurshegemonie" halten; das gilt für jede Form
von Wahrheitsbehauptung (und wie exkludierend und moralistisch demütigend gerade das sog.
"aufgeklärte" kirchenkritische Lager agiert, konnte man auch hier nachlesen...da
konnte man mit sensibler Olfaktorik die Feuerhölzchen für die Scheiterhaufen auch schon
riechen...). Und gerade dann könnte es von Vorteil sein, wenn als um die sog.
"Wahrheit" besorgte Instanz eine Institution auftritt, die von vornherein
konzediert, daß ihr diese von "außen" vorgegeben ist, daß sie nicht (und für
niemanden!) "verfügbar" ist (es gibt daher natürlich auch Grenzen für die immer
wieder tendenziös angeführte und mißverstandene "Unfehlbarkeit des Papstes"!),
daß Wahrheit eine Frage der unendlichen "Interpretation", der Exegese, der
Auslegung und Deutung ist, für die es ("in dieser Welt": also fast überall)
keine objektiven Verifizierbarkeiten gibt. Und nur das heißt "Sinn", nur in
dieser instabilen unsicheren Form ist er überhaupt irgendwo zu "haben", und
insofern ist und bleibt religiöser Sinn der Archetyp von Sinn(nicht)verstehen überhaupt,
egal unter welcher Travestie diese heute auftritt (und gerade auch, wenn es sich offen
anti-religiös und anti-kirchlich gibt: was wären denn etwa Nietzsche oder Küng oder
Drewermann oder Deschner ohne Kirche?).
Alles andere ist Positivismus, Faktenhuberei ("Statistik"), Un-Sinn. Zumindest:
keine Philosophie.
Freundliche Grüße
Joachim Landkammer
-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: Philweb <philweb-bounces(a)lists.philo.at> Im Auftrag von Ingo Tessmann via
Philweb
Gesendet: Donnerstag, 15. April 2021 11:29
An: philweb <Philweb(a)lists.philo.at>at>; K. Janssen <janssen.kja(a)online.de>
Betreff: Re: [Philweb] Frohe Ostern, ein österlicher Zwischenruf
[Philweb]
Am 15.04.2021 um 01:17 schrieb K. Janssen via Philweb
<philweb(a)lists.philo.at>at>:
Interessant, dass Ingo T. in diesem Fall keine Quellenangaben einfordert, wenn Du die
Behauptung aufstellst, 50 Mrd Euro würden jährlich durch die kath. Kirche (da die
Lutheraner ihre Finanzen wohl nicht mit dem Papst teilen) nach Rom transferiert. Sollte
diese von Dir angegebene, ungeheuerliche Summe zutreffend sein, könnte man keinem
Katholiken den Austritt verübeln.
Hi Karl,
es wäre erfreulich, wenn meine Appelle zur Angabe von Quellen ebenso fruchteten wie das
Befolgen der Cliffordschen Maximen zur intellektuellen Redlichkeit. Ich hatte mir nach dem
Lesen des Buches der WDR-Journalistin Eva Müller: „Gott hat hohe Nebenkosten“, 2013
zusammenfassend notiert: Finanzierung mit 65 Mrd. jährlich, davon 64 Mrd. für
Krankenhäuser, Kindergärten, Schulen u.ä.; Ausnahmeregeln in Gesetzen, Ausnahmeregeln in
Parteiprogrammen. 34% der Deutschen sollen seinerzeit "ohne Bekenntnis“ gewesen sein.
Warum werden Gesundheits-, Erziehungs- und Bildungsausgaben nicht direkt für staatliche
Institutionen ausgegeben, sondern nach wir vor die Indoktrination der Menschen von der
"Krippe bis zur Bahre“ finanziert?
Bei ver.di ist zu lesen: "Die größten Arbeitgeber in Deutschland nach dem
öffentlichen Dienst sind die evangelische und katholische Kirche mit ihren
Wohlfahrtsverbänden Diakonie und Caritas. Etwa 1,8 Millionen Menschen arbeiten dort, davon
rund 1,3 Millionen in den Unternehmen unter dem Dach der beiden Wohlfahrtsverbände. Die
Finanzierung der Arbeit erfolgt fast ausschließlich aus Sozialversicherungsbeiträgen und
staatlichen Steuermitteln, ganz genauso wie bei nichtkonfessionellen Trägern.“
Mit wie vielen Mrd. die Kirchen in Deutschland tatsächlich direkt oder indirekt gefördert
werden, weiß niemand genau, da Staat und Kirchen offensichtlich innig verfilzt sind. Die
Kirchen sind jedenfalls nach dem öffentlichen Dienst hinsichtlich der Beschäftigten der
zweitgrößte Unternehmensverband in der BRD. Damit sind (einschließlich der Angehörigen)
mehrere Mill. Menschen direkt von den Kirchen abhängig.
Für mich sind die Kirchen aber nur ein Beispiel dafür, wie Herrschaft im Patriarchat
dauerhaft verschleiernd organisiert wird. Alles das, was besteht und wovon viele
profitieren, ist schwer zu überwinden. Dazu tragen neben den Reichtümern auch die
Traditionen bei, an denen natürlich die besonders festhalten, die Vorteile daraus ziehen.
Dabei ist das Festhalten an Traditionen, Bräuchen und Gewohnheiten in den Kulturen der
wesentliche Grund für die Krisen und Katastrophen, die sich in diesem Jahrhundert
dramatisch zuspitzen werden. Was wir brauchen, ist kein Festhalten an zerstörerischen
Kulturen, vielmehr ein Aufbruch in eine nachhaltige Zivilisation.
Nicht nur die Pfaffen und die ihnen nachlaufenden Schafe, viele Männer insgesamt reagieren
zunehmend gereizt auf die berechtigten Zweifel an ihren Privilegien. Wer von Ungleichheit
jahrtausendelang profitiert hat, wird es groteskerweise auch noch als ungerecht empfinden,
wenn Gleichberechtigung nunmehr tatsächlich eingefordert wird. Die Feministin Sophie
Passmann bspw. hat viele Pöbeleien und üble Nachrede über sich ergehen lassen müssen, nur
weil sie sich über alte weiße Männer lustig gemacht hat. Geschlechter-, Rassen-, Klassen-
und Religionskämpfe wird es so lange geben wie es Menschen gibt; sie werden aber verstärkt
dadurch, dass die Unterschiede jeweils eher verschärft als vermindert werden. Zur
Entschärfung der Kulturen tragen Künste und Wissenschaften bei, nicht Religionen und
Traditionen; schließlich müssen wir in der Zukunft leben und nicht in der Vergangenheit.
Aber ich wiederhole mich …
IT
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