Am 20. Oktober 2016 um 03:26 schrieb K. Janssen <janssen.kja(a)online.de>de>:
Waldemar, alles was Du in Deiner Replik auf RF's
Frage schreibst, ist m.E.
inhaltlich vollkommen zutreffend, brillant analysiert und dargestellt.
Leider habe ich diese E-Mail niemals lesen können, sie ist bei mir
nicht angekommen, selbst im Spam-Ordner nicht.
Natürlich kann man Platon'sche Ideale kritisch
werten (insb. Popper in „The
Open Society an its Enemies“).
Diesen Absatz verstehe ich nicht ganz.
Was genau ist mir "platonische Ideale" gemeint? Darf ich "platonische
Ideale" so auffassen wie Kants "regulative Ideen" (wozu aber der
Verweis auf Popper nicht passen würde)?
Für meine Begriffe kommt man jedoch nicht
umhin, als Fundament für eine hinreichend funktionierende Staatsform (eben
als moderne offene Gesellschaft fungierend) gewisse Ideale (so eben auch den
Wahrheitsbegriff, wie er sich aus dem uns eingeborenen W. -Empfinden
entwickelt hat) zu definieren und diese über geeignete staatliche
Instrumente von den mündigen Mitgliedern einer Gesellschaft einzufordern.
Ich würde mich dem anschließen, dass Mündigkeit als Voraussetzung für
eine demokratische Entscheidungsfindung betrachtet werden kann.
Der Einzelne muss in der Lage selbstständig Entscheidungen zu treffen.
Damit die Entscheidungen gut sind, muss er auch hinreichend informiert
sein und überhaupt an der richtigen Entscheidung interessiert
("ergebnisoffen").
Der Preis für (jegliches) Leben in Materie ist das
Aushalten
(aber auch Erleben) dieser Differenz: Plus-Minus, Licht-Schatten,
Gut-Böse, Wahrheit-Lüge, fressen-gefressen werden,
und so weiter und so fort.
So eine Art "Dualität", die als belastend empfunden werden kann.
(Wobei das sicherlich auch schon einige Fragen aufwirft.)
Kein Problem eigentlich: Menschheitsgeschichtlich
stehen wir (im Vergleich zu 5 Mrd. Jahren
Erdentwicklung) noch ganz am Anfang.
Da ist noch sehr viel Luft nach oben,
wie man landläufig sagt.
Soweit es unsere Sicht (Wissensstand 2016) angeht, stehen wir
sozusagen eher "am Ende" der Menschheitsgeschichte. Alles, was noch
kommen wird, alle Jahrtausende und Epochen, welche da kommen, sind für
uns die Zukunft, noch offene Möglichkeit.
Sieht man sich die Menschheitsgeschichte im kosmologischen oder auch
nur geologischen Zeitstrahl an, so bekommt man schon einen Eindruck
davon, die ganze Geschichte der Menschheit bis jetzt sei nur ein
Bruchteil. Allerdings fehlen uns die Vergleichsmaßstäbe.
Ich hoffe auch, dass wir Menschen noch einmal eine Gesellschaft
gründen werden, in dem die Wahrheit etwas mehr wertgeschätzt wird...
Als Beispiel dafür hat RF Schopenhauers Plädoyer für
Scheinargumente
(bewusste Lüge als Mittel selbstdarstellerischer Infallibität) erwähnt.
...allerdings gehört Zuspitzung und Polemik zur Art, wie wir momentan
Debatten durchführen, dazu.
Ich glaube, wir missinterpretieren Schopenhauer, wenn wir von
"bewusste Lüge als Mittel selbstdarstellerischer Infallibität"
sprechen.
Er selbst schreibt im Vorwort:
"Man kann nämlich in der Sache selbst objective Recht haben und doch
in den Augen der Beisteher, ja bisweilen in seinen eignen, Unrecht
behalten. Wann nämlich der Gegner meinen Beweis widerlegt, und dies
als Widerlegung der Behauptung selbst gilt, für die es jedoch andre
Beweise geben kann; in welchem Fall natürlich für den Gegner das
Verhältnis umgekehrt ist: er behält Recht, bei objektivem Unrecht."
"Eristische Dialektik" oder "Die Kunst, Recht zu behalten" zitiert
nach:
http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-kunst-recht-zu-behalten-4994/1
Er beschreibt dann die Situation, dass wir zwar im Recht sind, uns das
richtige Argument aber im Moment einfach nicht einfällt und wir uns
deshalb geschlagen geben müssen. Das kann dann vor unabhängigen
Publikum zur (vorschnellen) Einsicht führen, dass unsere Position
tatsächlich sachlich unrettbar wäre. Es geht also nicht einfach um
kindische Rechthaberei, sondern darum, die eigene Position nicht zu
schnell aufzugeben, denn das könnte dazu führen, dass sie aus falschen
Gründen zu schnell verworfen wird und deshalb der Diskussionsverlauf
eine falsch Wendung nimmt.
So gesehen spricht Schopenhauer das von mir konstruierte Problem
zwischen A und B direkt an. Nur wirkt seine Antwort darauf etwas
zynisch.
Man könnte die Diskussion jetzt sogar noch weiter treiben zu den
unzulässigen Hilfshypothesen in der Wissenschaftstheorie... Wozu ich
aber im Moment nicht die Texte zur Hand hätte.
Für mich ist die platte, berechnende, dreiste Lüge
(wem auch immer
gegenüber) ein Greuel und all zu oft ein Verbrechen.
Es geht ja in meinen Text nicht nur um das Lügen, sondern bewusst auch
um das Verschweigen.
Wenn mir wieder mal alles zu kompliziert ist (und
selbst die lumpigen zehn
göttlichen Gebote zuviel sind) breche ich meine gelebte Ethik auf den
bisweilen als goldenen Satz der Philosophie gepriesenen Grundsatz herunter:
„Was du nicht willst, das man dir tut, füg' auch keinem andern zu“. Nobler
ausgedrückt natürlich durch den Kant'schen Imperativ (Da bin ich
-ausnahmsweise- ihm sehr nahe).
Nun, Kants Imperativ bezieht sich auf das Prinzip des Handelns oder
das Motiv, nicht auf das Handeln direkt. Da ist schon ein Unterschied.
Trotzdem stelle ich mir mal die Frage: Möchte ich belogen werden, weil
mein Gegenüber (vielleicht ein Mentor oder guter Freund) hofft, dass
ich damit einmal auf eine bessere Einsicht komme oder zumindest nicht
zu einer falschen?
Ich sehe das wohl mehr wie der Moralist als der Rationalist oder der
"Eristiker", das Band des Vertrauens wäre beschädigt. Ich müsste in
Zukunft immer wieder Fragen, ob mich diese Person nicht belügt,
außerdem würde ich es wohl auch als verletzend empfinden.
Von einem Lehrer würde ich so ein Verhalten wohl noch am Ehesten
akzeptieren. (Schließlich gilt z. B. das Bohrsche Atommodell auch
nicht mehr als stand of the art, dennoch ist es eine ausreichende
Annäherung für Schüler.) Von einem Freund wäre ich vergleichsweise
enttäuscht.