Am 04.06.2024 um 02:26 schrieb Karl Janssen über
PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at>at>:
bei Prägung denke ich natürlich an Konrad Lorenz.
In seinem Sinn können Menschen nicht geprägt werden. Und den meth. Konstr. sehe ich
lediglich als Einstieg ins Philosophieren. Gleichsam als rationale Basis, auf die man sich
immer wieder beziehen und besinnen kann. Dabei setzt das meth. Konstr. gerade voraus,
seine Subjektivität zu transzendieren. Wie mehrfach geschrieben, sind Konstrukte nicht
methodisch nachvollziehbar, sind sie für mich belanglos.
In Bezug auf K. Lorenz jedoch (diesmal geht es mir nicht um den „Lorenzpiepser“ als
Rückmeldung in philweb😊) würde mich Deine Aussage sehr stark verwundern, wonach er eine
soziale Prägung des Menschen für unmöglich gehalten hat.
Moin Karl,
nicht Lorenz hat eine soziale Prägung des Menschen für unmöglich gehalten, sondern ich
zweifel an den Verallgemeinerungen, die Lorenz im Anschluss an seine Experimente zur
Nachfolgeprägung bei Gänsen vorgenommen hat.
Er hat als Verhaltensforscher geradewegs entscheidende
Forschungsergebnisse vorgelegt, die das Phänomen der sozialen Prägung als irreversible
Form des (sozialen) Lernens nachweist. Es vollzieht sich dabei ein prozessuales Geschehen,
bei dem ein Mensch sich während einer bestimmten, kurzen Zeitspanne intuitiv und
irreversibel entscheidet, welche Objekte er als entscheidende Bezugsperson für seine
sozialen Beziehungen erachtet. Dieses Verhalten ist auch für die ersten Momente spontaner
Verliebung beschrieben, etwa bei Frauen, die intuitiv beim Anblick eines Mannes dessen
Eignung für eine partnerschaftliche Verbindung wahrnehmen kann.
Diesen Forschungen gingen bei Lorenz bekanntermaßen Tierbeobachtungen, insbes. die
berühmten Versuche mit Federvieh voraus. Bezogen auf Gänseküken, die nach dem Schlüpfen
nicht ihre Muttergans, sondern Lorenz als erste soziale Bindung erfahren haben, folgten
diesem im „Gänsemarsch“ auf Schritt und Tritt und verlangten des Nachts eben diesen
berühmten Lorenzpiepser, schlichtweg als in gewissen Zeitabständen erfolgende Rückmeldung
einer intakten Beziehung. Diese solchermaßen hergestellte Verbindung ist irreversibel
prägend, d.h., würde Lorenz anstatt seiner „Mutterfunktion“ wieder die eigene Gänsemutter
der Küken ins Spiel bringen, würde sie nicht von diesen als solche akzeptiert werden.
Und welche Beobachtungen an Menschenkindern kannst Du nennen, die eine Übertragung der
Ergebnisse von Lorenz mit Tieren auf den Menschen rechtfertigten? Ich hatte ja kürzlich
auf einige Lehrbücher verwiesen. Bei David G. Myers, „Psychologie“ ist zu lesen: „Prägung
(»imprinting«) – Vorgang, der bei manchen Tieren zur Ausbildung eines Bindungsverhaltens
führt. Die Prägung erfolgt in der kritischen Phase.
Kinder sind keine Entenküken, bei ihnen findet keine Prägung statt. Sie entwickeln
Bindungen zu dem, was sie kennen gelernt im häuslichen Umfeld. Spätere Beobachtungen mit
einjährigen Kindern fanden in einer fremden Umgebung statt, üblicherweise das Spielzimmer
eines Psychologischen Instituts. In solchen Beobachtungen zeigen ungefähr 60% der Kinder
ein sicheres Bindungsverhalten.“
Und in Lieselotte Ahnert (Hrsg.), „Theorien in der Entwicklungspsychologie“ heißt es: „Die
unvermittelte Anwendung des Konzepts der Prägung auf menschliche Entwicklung ist jedoch
fraglich, was am Beispiel der Bindungsentwicklung deutlich wird. Wenn der Vorgang der
Prägung in der Humanentwicklung weniger markant hervortritt als bei manchen Tierarten,
dann weist dies darauf hin, dass sich das Zusammenwirken von Anlage und Umwelt beim
Menschen viel komplexer gestaltet.“
Bei Menschen sollte also nicht pauschal von Prägung, sondern quantifiziert von
Bindungsverhalten geschrieben werden. Und hinsichtlich des Intellekts sind sowohl Prägung
als auch Bindung fehl am Platz. Plausibler sind mir da die Themata Holten's, die er an
Wissenschaftlern untersuchte. An sie knüpft auch Krause an in „Einsteins EJASE-Modell als
Ausgangspunkt physikdidaktischer Forschungsfragen":
https://core.ac.uk/download/pdf/230003483.pdf
<https://core.ac.uk/download/pdf/230003483.pdf>
Dem kann ich nur zustimmen. Was jedoch die Behandlung
von Medien im Schulunterricht anbelangt, sollte diese auf die entsprechende Reife der
Schulkinder abgestimmt und daher definitiv nicht gänzlich unzensiert sein.
Verantwortungsvolle Zensur hat nichts mit Vorenthaltung von pornografischen Darstellungen
zu tun, die in ihrer Art noch nicht von Kindern emotional zu verarbeiten sind.
Das halte ich für ein Vorurteil. Mir ist nicht bekannt, dass Kinder beim Betrachten
kopulierender Menschen Verarbeitungsprobleme haben könnten. Ist ihnen das von Anfang an
selbstverständlich (wie bei Naturvölkern und in Kommunen bspw.), werden sie es erst gar
nicht verarbeiten müssen. Erst die Tabuisierung oder Heimlichtuerei der Erwachsenen dürfte
sie verwirren und dann noch die ganze Wichtigtuerei und das viele Gerede darüber. Sind Dir
denn seriöse Untersuchungen bekannt, die derartige Verarbeitungsprobleme nachweisen?
Gerade die
Symmetriebrüche sind es, die die Evolution der Natur wie des Lebens voranbringen.
Darüber haben wir hier ausführlich geschrieben und natürlich trifft das auf Deinen
Einwand hier zu. Womöglich hätte eher von Symmetrieverletzung sprechen sollen, um
aufzuzeigen, dass am Beispiel von Yin und Yang als zwei gegensätzliche Elemente einer
Ganzheit, das Fehlen, bzw. Entfernen eines dieser Elemente unweigerlich zum Zusammenbruch
einer Ganzheit führt. Nimmst Du das männliche Prinzip aus dieser Einheit und belässt nur
das weibliche, verlierst Du die Ganzheit. Das ist Dir natürlich bewusst und somit kann es
nur Provokation sein, die Menschheit sich nur noch aus dem Weiblichen konstituiert zu
wünschen.Auf dass die Welt damit ein besserer Ort sei.
Andernfalls kennst Du die Frauen nicht! Sie können alles sein: von der Hexe bis zur
angebeteten Heiligen.
Die verwechselst Symbolik mit Empirie. Die Yin-Yang-Zweiheit war fruchtbar bei Leibniz
(Digitalsystem) und von Weizsäcker (Ur-Theorie) bspw.— Empirisch aber nehme ich die
Evolutionstheorie ernst und keinen Yin-Yan-Mystizismus. Ich empfehle Dir das Buch „Frau“
von Natalie Angier, in dem es um „eine intime Geographie des weiblichen Körpers“ geht.
Danach ist phylo- wie ontogenetisch das Weibliche pimär und das Männliche bloß eine
Abwandlung,— die auch wieder verschwinden könnte.
Hat Technik das wirklich vollbracht? Wie steht es
diesbezüglich um die Kraftmeierei eines Despoten, der aktuell die Welt in ein nuklear
verseuchtes Armageddon mittels militärischer Technik zu verwandeln droht?
Technik hat das nicht vollbracht, sondern könnte es.
Vielleicht noch ein Gedanke zum Konstruktivismus.
Grundsätzlich ein Konstrukt, das einem altruistischen Ansatz gesellschaftlicher
Verhaltensform entgegen steht. Nahezu in solipsistischer Manier gestalten Menschen dieser
Neigung ihr Leben vornehmlich nach eigenen Vorstellungen in Art einer Selbstbildung und
stehen ihrem sozialen Umfeld mit ausgeprägt autarkem Verhalten gegenüber, das auf einer
selbst kreierten Wirklichkeit aufsetzt. Hat dieses Verhalten Methode, könnte man dann von
einem methodischen Konstruktivismus sprechen? Womöglich ist diese Methode grundlegend für
den aktuell vorherrschenden Neoliberalismus: „Ich mache mir die Welt, wie sie mir
gefällt“. Das Credo der Beliebigkeit, soweit sie mir dient. Was andere denken,
interessiert nicht.
Du müsstest doch wissen, dass ich mich beim meth. Konstr. auf Paul Lorenzen beziehe. Der
lässt Konstruktionen nur gelten, wenn sie schrittweise und zirkelfrei vorgehen und damit
nachvollziehbar sind. Dabei setzt er gerade nicht auf Subjektivismus, sondern darauf, erst
einmal seine Subjektivität zu transzendieren. Gegen die Strauß-Parole „Freiheit statt
Sozialismus“ damals hatte er für einen Sozialismus der Gerechtigkeit argumentiert. Dennoch
bleibt Lorenzens meth. Konstr. ein philosophischer Konstruktivismus.
Einen subjektiv methodischen Liberalismus halte ich für ideologisch machorientiert. Aber
hinsichtlich der Gerechtigkeit könnte es wohl auch einen politischen Konstruktivismus
geben, bspw. im Anschluss an Lisa Herzog, „Freiheit gehört nicht nur den Reichen“; denn
„Freiheit ist mehr als die Freiheit, zu wirtschaften. Dieses Buch stellt dar, wie
Liberalismus heute gedacht werden muss, damit er nicht im Widerspruch zu Gerechtigkeit,
Nachhaltigkeit und einem gelingenden Leben steht. Freiheit, so das Plädoyer, muss
vielschichtiger verstanden werden, um zu sehen, welche Rolle Märkte für eine gute
Gesellschaft spielen können. Jenseits des politischen Schubladendenkens wird das Bild
einer Gesellschaft entworfen, die allen Mitgliedern ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht
und dabei mit den begrenzten Ressourcen der natürlichen Welt vereinbar ist.
Das Buch führt in zentrale Themen der Ideengeschichte, Wirtschaftstheorie und
Sozialphilosophie ein und legt die Denkmuster offen, die viele heutige Debatten prägen.
Unter anderem geht es um die Frage nach einem realistischen Menschenbild jenseits des homo
oeconomicus, um das Verhältnis negativer, positiver und republikanischer Freiheit und um
die Frage, wie eine Politik aussehen kann, die sich auch jenseits des Wachstumszwangs an
einem selbstbestimmten Leben für alle Menschen orientiert. Nicht zuletzt zeigt das Buch
auf, wie mit einem zeitgemäßen Freiheits- und Menschenbild Märkte wieder in den Dienst
einer gerechten Gesellschaft gestellt werden können.“
IT