Am 27.12.2023 um 16:35 schrieb Joseph Hipp über
PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at>at>:
Du weißt, dass ich überwiegend kausal denke, so dass ich die Glieder der Kette bzw.
Masche suche. Einerseits gehe ich von der Phylogenese aus, und dann komme ich nicht an
Konrad Lorenz vorbei, für den die Rituale schon bei Fischen und Vögeln vorkommen. Das
Schnattern seiner Enten kam schließlich schon aus ihrem "Mundwerk". In der
Klassifikation und der Begriffssprache wäre das allgemeinere Wort hierzu
"Gewohnheit". Ein Teil dieser ist angeboren, der andere jedoch wird tradiert
oder gelehrt. So teilt sich deine Aufgabe in zwei: Wie kommt die Person dazu, diese
Gewohnheiten zu praktizieren (Ontologie), denn aus der Luft kommen sie nicht. Und wie
wurden sie wie du fragtest, in der Geschichte immer stärker? Hier geht es um die
Rekonstruktion der Kausalkette im Denken, mit vielen Lücken und Zufällen, meinetwegen in
deiner Sprache mit Stochastik und Mathematik, du siehst ich kann dein Denken auch minimal
verstehen, sei es nur um es dir recht zu tun. Haha.
Hi JH,
lach Du nur weiter — vor zwei Jahren hatte ich Christopher Clark zitiert aus seinem Buch
„Von Zeit und Macht“: „Wie die Schwerkraft das Licht, so beugt die Macht die Zeit. Dieses
Buch zeigt, was geschieht, wenn zeitliches Bewusstsein durch die Linse der Macht
betrachtet wird.“ Passend dazu hat Denis Le Biha kürzlich die Dimensionen des
Gehirn-Konnektoms untersucht in: "From Black Holes Entropy to Consciousness: The
Dimensions of the Brain Connectome“.
https://www.mdpi.com/1099-4300/25/12/1645
Abstract: "It has been shown that the theory of relativity can be applied physically
to the functioning brain, so that the brain connectome should be considered as a
four-dimensional spacetime entity curved by brain activity, just as gravity curves the
four-dimensional spacetime of the physical world. Following the most recent developments
in modern theoretical physics (black hole entropy, holographic principle, AdS/CFT
duality), we conjecture that consciousness can naturally emerge from this four-dimensional
brain connectome when a fifth dimension is considered, in the same way that gravity
emerges from a ‘flat’ four-dimensional quantum world, without gravitation, present at the
boundaries of a five-dimensional spacetime. This vision makes it possible to envisage
quantitative signatures of consciousness based on the entropy of the connectome and the
curvature of spacetime estimated from data obtained by fMRI in the resting state (nodal
activity and functional connectivity) and constrained by the anatomical connectivity
derived from diffusion tensor imaging.“
Ich weiß nicht, ob so wie Le Biha auf das Gehirn auch schon einmal jemand die Riemannsche
Geometrie auf die Geschichte angewandt hat. Derart globale Zusammenhänge zwischen Kosmos,
Geschichte und Gehirn sind natürlich problematisch. Suominen arbeitete bereits 1950
"On the interrelation of consciousness and materia in the light of modern physics“.
Empirischen Gehalt wie in der Kosmologie erhält die Verwendung der Riemannschen Geometrie
in der Hirnforschung aber erst mit den gegenwärtig möglichen bildgebenden Verfahren.
Der Zusammenhang zwischen Zeitdehnung und Gravitation folgt kosmologisch aus dem
Relativitätsprinzip, aus dem auch die Existenz einer Grenzgeschwindigkeit gefolgert werden
kann. Le Biha nimmt demgegenüber die Grenzgeschwindigkeit der Reizleitung im Gehirn als
grundlegend an, ein Analogon zum Relativitätsprinzip formuliert er nicht. Darüber sollen
wohl seine Lesenden sich Gedanken machen. Ich finde seine Untersuchungen jedenfalls
spannend; denn unser hirngeneriertes Zeitgefühl ist ja ähnlich variabel wie das
physikalische in der Nähe großer Massen.
Das Konnektom hatten Sporns et al. 2005 eingeführt in: "The Human Connectome: A
Structural Description of the Human Brain“. Abstract: "The connection matrix of the
human brain (the human ‘‘connectome’’) represents an indispensable foundation for basic
and applied neurobiological research. However, the network of anatomical connections
linking the neuronal elements of the human brain is still largely unknown. While some
databases or collations of large-scale anatomical connection patterns exist for other
mammalian species, there is currently no connection matrix of the human brain, nor is
there a coordinated research effort to collect, archive, and disseminate this important
information. We propose a research strategy to achieve this goal, and discuss its
potential impact.“ Unterdessen wird ein Forschungsprogramm verfolgt, an dem sich auch die
Historiker orientieren könnten; denn das Hirn ist ja gleichsam das Interface zwischen
Kosmos und Geschichte.
Kosmologisch hat Penrose die Kausalität in seiner CCC auf die Spitze getrieben, aber
welche Rolle spielt sie in Geschichte und Gehirn? Sind Menschen im Gegensatz zum
naturnotwendigen Kosmos nicht zweckrational? Menschen entwickeln sich nicht nur wie der
Kosmos aus sich selbst heraus, sie verfolgen auch Absichten und üben Macht aus in ihren
Handlungen. Auf das Recht bezogen, werden ja Vorsatz und Fahrlässigkeit unterschieden. Es
bleibt noch viel zu tun bei der Untersuchung der jeweiligen Möglichkeitsräume und ihrer
Realisierungen unter Einschränkungen. Du hattest Dich auf Lorenz bezogen, Trotzki in
seiner Autobiographie auf Darwin: „Allgemein gesprochen, spiegelt sich das Gesetzmäßige
des gesamten historischen Prozesses im Zufälligen wider. Will man die Sprache der Biologie
gebrauchen, dann kann man sagen, daß sich die historische Gesetzmäßigkeit durch die
natürliche Auslese der Zufälle verwirklicht. Auf dieser Grundlage entwickelt sich die
bewußte menschliche Tätigkeit, die die Zufälle einer künstlichen Auslese unterwirft.“
IT